Erinnerungen haben es schwer in Zeiten allgegenwärtiger digitaler Bildbannungen. Ob ein Papst stirbt, Deutschland Fußballweltmeister wird oder die Schönheit einer Landschaft einem den Atem raubt – die modernen Zeitgenossen erleben die Welt meist nur noch vermittelt durch den Screen der Smartphones. Ein Selfie hier, ein Selfie da. Das Essen, die Leiche, der Sonnenuntergang – alles bildet nur noch die Kulisse für ein Bild des äußeren Ich. War man wirklich da? Oder wurde das Bild möglicherweise mit der sogenannten „Künstlichen Intelligenz“ generiert? Wer weiß das schon. Was glauben Sie denn?
Es heißt ja, dass in den letzten Sekunden der irdischen Zeit das eigene Leben vor dem inneren Auge vorüberziehen würde. Ob das wirklich so ist, weiß man nicht so genau. Denn die, die davon berichten könnten, haben Zeit und Raum längst hinter sich gelassen und können nichts mehr erzählen. Aber nehmen wir einmal an, es sei so: Was werden die, die die ihnen geschenkte Zeit nur im Status medialer Maskierung verlebt haben, erinnern? Hat man den Geschmack des abfotografierten Essens noch auf der Zunge, den Geruch der Rapsfelder in der Nase, die Weite des Meeres, die jeden Bildrahmen sprengt, noch vor Augen? Hat man das äußere Leben wirklich erinnert?
„Erinnere dich: Als du in Ägypten Sklave warst, hat dich der HERR, dein Gott, dort freigekauft. Darum mach ich es dir zur Pflicht, diese Bestimmung einzuhalten.“ (Dtn 24,18)
Erinnerung erscheint hier als Wesensbestimmung, als Auftrag, eine Verpflichtung wahrzunehmen, die einen Vers vorher formuliert wird:
„Du sollst das Recht von Fremden, die Waisen sind, nicht beugen; du sollst das Kleid einer Witwe nicht als Pfand nehmen.“ (Dtn 24,17)
Die Erinnerung an die Befreiung des Volks Israel aus der Sklaverei in Ägypten zeigt Wirkung. Was einem selbst widerfuhr, soll nun selbst geübt werden: Sozial Schwache und Fremde haben die gleichen Rechte. Israel hat aufgrund der Erinnerung an seine eigene Befreiung sogar die Pflicht, das, was ihm selbst geschenkt wurde, anderen zu geben.
Für das Volk Israel ist Erinnerung niemals nur Rückschau auf Vergangenes. Erinnerung heißt Vergegenwärtigung. Die Erinnerung ist immer aktuell. Wenn die Erinnerung Schaden nimmt oder verloren geht, verliert das Volk seine Identität. Israel vergisst nicht. Israel darf nicht vergessen. Israel vergisst nicht! – nicht den Exodus, nicht die Shoah, nicht den 7. Oktober 2023.
Das Vergessen hingegen ist eine Forderung derjenigen, die sich mit den unangenehmen Folgen der Vergangenheit lieber nicht auseinandersetzen wollen. In der nächsten Woche, am 8. Mai, jährt sich zum 80. Mal das Ende des zweiten Weltkriegs. Für die einen ist es der Tag der Befreiung, für andere der Tag der Kapitulation – je nach Brille und Perspektive, mit der man auf diesen Tag schaut. Nicht wenige wollen die Zeit, die zu diesem Tag führte, vergessen machen. Tod, Unterdrückung und Verfolgung, die Shoah und die Verantwortung für Millionen Kriegstote – das alles soll, wie manche sagen, endlich auf den „Müllhaufen der Geschichte“. Der „Schuldkult“ müsse ein Ende finden. Schließlich handele es sich um einen „Vogelschiss“ in der Geschichte Deutschlands.
Erstaunlich ist, dass in vielen Familien unseres Landes die Zeit zwischen 1933 und 1945 merkwürdig erinnerungslos ist. Es gibt kaum Geschichten aus der Zeit. Die Erinnerung dort gleicht einer großen Gedächtnislücke, einer nationalen Amnesie, die ihren Ausdruck in dem Begriff der „Stunde Null“ findet, die dann wieder mit dem 8. Mai verbunden ist. Ob es diese „Stunde Null“ wirklich gab? Wo waren all die hin, die für die Zustände vorher verantwortlich waren, die Täter, die Mitläufer, die Unterstützer, die Profiteure.
Erinnere Dich! Die Identität eines Volkes hängt an der Erinnerung, die immer auch eine Vergegenwärtigung ist. In der nächsten Woche nimmt aller Wahrscheinlichkeit nach die neue Bundesregierung ihre Arbeit auf. Erinnert euch! – möchte man ihnen zurufen. Erinnert euch daran, dass auch viele von euch nach dem Krieg Geflüchtete waren, dass trotz der Schuld an der Katastrophe andere diesem Land geholfen haben. Erinnert euch an die Freiheit und Würde, die wiedergewonnen wurde. Und macht es euch zur Pflicht, andere diese Würde nicht zu nehmen. Erinnert euch!
Dr. Werner Kleine
Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 2. Mai 2025.
In der Kolummne “Was glauben Sie denn?” der Westdeutschen Zeitung Wuppertal äußert sich Dr. Werner Kleine regelmäßig zu aktuellen Themen aus Kirche, Stadt und Land. Alle Texte der Kolummne erscheinen auch im Weblog "Kath 2:30":