Wahrnehmungen
Liebe Leserinnen und Leser,
Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung sind zwei verschiedene Perspektiven. Sie können kongruent sein, müssen es aber nicht. Es ist sogar eher wahrscheinlich, dass das eigene Selbstbild von dem, dass anderen von einem haben, abweicht. Das sogenannte „Johari-Fenster“, das 1955 von den amerikanischen Sozialpsychologen Joseph Luft und Harry Ingham entwickelt wurde, spricht sogar eher dafür, dass es grundsätzliche Divergenzen gibt. Danach hat jede Persönlichkeit Facetten, die ihr ebenso wie anderen bekannt sind. Andere Eigenschaften kennt nur die Person selbst, sie sind ihr Geheimnis. Andere hingegen stellen eine Art blinder Fleck dar, die nur von anderen wahrgenommen wird, nicht aber von der Person selbst. Und dann gibt es das Unbekannte, das zur Persönlichkeit gehört, das aber weder von ihr selbst noch von anderen wahrgenommen wird. So gesehen ist es also normal, wenn es Unterschiede in der Selbst- und der Fremdwahrnehmung gibt. Diese können freilich zu Konflikten führen, wenn die Tatsache übersehen oder gar geleugnet wird, dass Selbst- und Fremdwahrnehmung grundsätzlich unterschiedliche Perspektiven, die nicht deckungsgleich sind, darstellen. Das gilt sowohl für die beobachtete Person selbst wie für diejenigen, die eine andere Person beobachten. Wenn hier nicht differenziert wird, dann kommt es schnell zu Urteilen: Du bist so, aber so bin ich doch gar nicht … Die Unfähigkeit, die Perspektive des anderen, ist ein großes Hemmnis zwischenmenschlicher Kommunikation, gehen doch mit ihr nicht selbst mangelnde Empathie, aber auch eine grundlegende Verweigerung der Selbstreflexion einher. Die Gegenwart ist voll von Beispielen, die nicht selten Menschen betreffen, die über Macht verfügen. Wer sich selbst permanent als Größten, Besten und Klügsten definiert – egal, ob er russisch, amerikanisches Englisch oder Deutsch spricht – lehnt nicht nur jede Kritik an sich und seinen Entscheidungen ab. Er ist auch grundständig beratungsresistent und seinen eigenen Launen ausgeliefert. Eine erratische Politik ist die Folge, die jede Verlässlichkeit und jedes Vertrauen zerstört.
Abhilfe könnte schaffen, ab und an einmal einen Schritt zurückzutreten. Aber Zurücktreten ist für jene Menschen, über jeden Selbstzweifel erhaben sind, keine Option. Wenn jede Kritik als Majestätsbeleidigung verstanden wird, sind Berater nicht erwünscht. Hofnarren, Speichellecker und Huldredner hingegen schon!
Auch wenn jeder sieht, dass die so Regierenden faktisch nackt sind, es ändert nichts. Die Dummen an der Macht glauben, sie seien Kaiserinnen und Könige. Dabei wird kein Clown König, wenn er in einen Palast einzieht; stattdessen wird der Palast zum Zirkus. Wer Augen hat zu sehen, kann das längst erkennen. Und wer die Fähigkeit zur Weitsicht hat, kann sehen, welch bisweilen tödliche Konsequenzen ein solches Verhalten hat. Berauscht von der selbst eingebildeten Größe werden ganze Länder in den Abgrund gezogen.
Wie anders handelt Jesus im Evangelium vom 12. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C. Die Zeit des galiläischen Frühlings, in dem alles euphorisch, neu und erfolgreich war, neigt sich dem Ende zu. Nur noch wenig wird geschehen, dann wird Jesus mit seiner Gefolgschaft nach Jerusalem aufbrechen, damit sich dort sein Schicksal erfüllt. Noch aber könnte er sich im Glanz seines Erfolges sonnen. Gerade hatte er die 5.000 mit nur fünf Broten und zwei Fischen satt gemacht (vgl. Lk 9,10-17).
Eigentlich könnte er sich auf seinem Erfolg ausruhen – oder sich gleich von den Begeisterten zum großen Anführer ausrufen lassen: Make Galiläa great again! Der Erfolg aber scheint ihm nicht geheuer. Er fragt:
Für wen halten mich die Leute? (Lk 9,18)
Weiß er nicht, wer er ist? Die Frage nach dem Selbstbewusstsein Jesu, also die Frage, ob der Mensch Jesus um seine Göttlichkeit weiß, gehört zu jenen brennenden Fragen der Theologie, die auch nach heutigem Stand nicht sicher beantwortet werden können. Aber selbst wenn er um seine außergewöhnliche Herkunft wüsste, gibt seinen Verhalten einen entscheidenden Hinweis. Nicht das, was ich sein glaube, ist entscheidend für den Erfolg einer Bewegung, sondern wie ich von den Menschen wahrgenommen werde. Und so ist die Antwort der Jünger, die ihm die Deutungen der Menschen wiedergeben, auf der einen Seite interessant, aber eben auch desillusionierend:
Einige für Johannes den Täufer, andere für Elíja; wieder andere sagen: Einer der alten Propheten ist auferstanden. (Lk 9,19)
Das sind alles sehr ehrenwerte Identifikationen, für die sich niemand schämen braucht. Und doch ist in ihnen nichts Exklusives. Jesus erscheint den Menschen als Wiedergänger. Alles ist schon einmal da gewesen. Nicht, dass damit keine Hoffnungen verbunden wären. Die Wiederkunft Elíjas etwa wird als Ankündigung des Messias verstanden – aber eben als Vorläufer. Und so fragt Jesus seine Jünger selbst:
Ihr aber, für wen haltet ihr mich? (Lk 9,20a)
Die Antwort des Petrus ist weniger eindeutig, als es für Christen den Anschein hat:
Für den Christus Gottes. (Lk 9,20b)
Für Christen scheint alles klar zu sein: Jesus ist doch der Messias! Für Juden hingegen ist das nicht so eindeutig. Es kennt „Messiasse“ im Plural. Petrus aber gibt ein eindeutiges Bekenntnis. Jesus ist der (!) Christus, der Messias Gottes.
Jesus lässt es dabei nicht bewenden. Er befiehlt ihnen, niemandem davon zu erzählen. Das ist auf der einen Seite eine Bestätigung: die Fremdwahrnehmung der Jünger ist an diesem Punkt kongruent mit der Selbstwahrnehmung Jesu. Aber die Frage, was ein Messias ist und welche Erwartungen die Menschen an ihn haben, ist noch zu komplex, denn
der Menschensohn muss vieles erleiden und von den Ältesten, den Hohepriestern und den Schriftgelehrten verworfen werden; er muss getötet und am dritten Tage auferweckt werden. (Lk 9,22)
Genau das passt so überhaupt nicht zu jenen Erwartungen, die Menschen allgemein an einen Erlöser bzw. einen Messias haben. Nicht umsonst ist das Scheitern des irdischen Jesus am Kreuz jenes Problem, von dem schon Paulus spricht:
Wir (…) verkünden Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein Ärgernis, für Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft und Gottes Weisheit. (1 Kor 1,23f)
Wer sich hingegen zu Jesus, der durch Kreuz und Auferstehung als Christus offenbar wurde und als solcher von den Christen bekannt wird, bekennt, muss sein Schicksal teilen – und zwar nicht als bloßes Lippenbekenntnis, sondern in tatkräftiger Konsequenz:
Wenn einer hinter mir hergehen will, verleugne er sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, wird es verlieren; wer aber sein Leben um meinetwillen verliert, der wird es retten. (Lk 9,23f)
Hier kehren sich Selbstwahrnehmung und Fremdwahrnehmung um. Wer sich zu Jesus als dem Christus bekennt, muss Taten folgen lassen. Ob das jene Politiker wissen, die im Kreml immer wieder Kerzen anzünden, sich im Weißen Haus medienwirksam segnen lassen oder Parteien angehören, die immer noch das „christlich“ im Namen tragen? Die blinden Flecken sind offenbar immer noch sehr groß. Und immer wieder tun sich Abgründe auf ….
Glück auf und Frieden über Israel,
Ihr Dr. Werner Kleine, PR
Katholische Citykirche Wuppertal
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