Wandelwort
Liebe Leserinnen und Leser,
„Wort des lebendigen Gottes“ – mit dieser Formel werden die Lesungen beendet. Die Gemeinde antwortet mit „Dank sei Gott“. Wie bei Formeln üblich, stellt sich nach einer gewissen Zeit ein ritualisierter Automatismus ein. Dabei beinhaltet die Formel eine Herausforderung: Das Wort Gottes soll nicht nur gehört, sondern ins Leben gebracht werden. Es soll Gestalt annehmen. Das nämlich ist das Besondere am christlichen Glauben, das er streng genommen eben keine Buchreligion ist. Die Bibel wird sicher als Heilige Schrift verehrt. Das in ihr überliefert Wort Gottes aber besteht nicht aus schwarzen Strichen auf weißem Grund, nicht aus toten Buchstaben, wie Paulus im 2. Korintherbrief sagt, sondern soll ins Herz der Glaubenden eingeschrieben werden (vgl. 2 Kor 3,3). Ultimativ wurde es Fleisch in Jesus Christus. Das Wort Gottes soll aber immer neu Gestalt annehmen. Das ist wohl der tiefere Sinn, wenn Johannes im Prolog seines Evangeliums bekennt:
"Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt." (Joh 1,14)
Da, wo die Einheitsübersetzung von 2016, die auch in der deutschsprachigen Liturgie in den Schriftlesungen verwendet wird, von „wohnen“ spricht, verwendet der altgriechische Urtext den Begriff „σκηνοῦν“ (gesprochen: skenoûn), der wörtlich „zelten“ heißt. Das Wort Gottes ist also gewissermaßen mobil und unterwegs. Es lässt sich nicht einsperren. Es ist eben lebendig.
Es hilft nichts, zu sagen, dieses oder jenes stünde so oder so in der Bibel. So einfach ist das eben nicht. Ein Wort, das nicht aus Stein gemeißelt ist, sondern eingeschrieben in die Herzen der Menschen, lebt. Und Leben ist wandelbar. Deshalb ist die Bibel kein dogmatischer Traktat. Sie kann sich sogar – je nach Situation – widersprechen. Das macht allein der berühmte Satz, der in Krisen- und Kriegszeiten wie wir sie gegenwärtig erleben, oft im Munde geführt wird, deutlich. Der Slogan Friedensbewegung
„Schwerter zu Pflugscharen“ (vgl. Mi 4,3)
Kontrastiert dabei freilich deutlich zur ebenfalls biblischen Aufforderung
„Schmiedet Schwerter aus euren Pflugscharen und Lanzen aus euren Winzermessern! Der Schwache soll sagen: Ich bin ein Kämpfer.“ (Joel 4,10)
Beide Texte gehören nach christlichem Verständnis zum Wort Gottes. Ein starres, biblizistisches Verständnis, das einfach darauf rekurriert, dieses oder jenes stünde so in der Bibel, hilft nicht weiter. Die Bibel als lebendiges Wort Gottes darf nicht auf diese starre Weise gelesen werden. Vielmehr ist sie offenkundig ein Buch des Lebens selbst, das das Leben aus der Sicht des Glaubens reflektiert. Das Leben selbst stellt immer neue Herausforderungen, die von Fall zu Fall neue Antworten erfordert. So gesehen würde man mit der Berufung, dieses oder jenes stünde so in der Bibel, alles und jedes begründen können. Der Beliebigkeit wäre Tür und Tor geöffnet.
Einer solchen utilitaristischen Verzweckung der Bibel steht die Mahnung aus dem Munde Jesu entgegen, die im Evangelium vom 21. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C verkündet wird:
„Ihr werdet ihr anfangen zu sagen: Wir haben doch in deinem Beisein gegessen und getrunken und du hast auf unseren Straßen gelehrt. Er aber wird euch erwidern: Ich weiß nicht, woher ihr seid. Weg von mir, ihr habt alle Unrecht getan! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein, wenn ihr seht, dass Abraham, Ísaak und Jakob und alle Propheten im Reich Gottes sind, ihr selbst aber ausgeschlossen seid.“ (Lk 13,26-28)
Die reine Berufung auf Jesus reicht nicht. Sie kann sogar zum Unrecht werden, wenn sie nicht dem Leben, sondern der Erstarrung dient. Das Leben selbst ist der Weg Gottes. Und das Leben erfordert eigene Antworten. Die findet man nicht zwingend in der Bibel – im Gegenteil: die Antworten dort können, wie das Beispiel oben zeigt, höchst widersprüchlich sein. Was aber ist die Bibel dann?
Sie ist ein Buch des Lebens und als solches ein Buch, das in unterschiedlichster Weise die Geschichte Gottes erzählt, der mit seinem Volk unterwegs ist. Das oberste Ziel ist dabei die Frage, wie Gerechtigkeit werden kann. Das ist auch die Pointe der zweiten Lesung vom 21. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C:
Jede Züchtigung scheint zwar für den Augenblick nicht Freude zu bringen, sondern Leid; später aber gewährt sie denen, die durch sie geschult worden sind, Gerechtigkeit als Frucht des Friedens.“ (Hebr 12,11)
Gerechtigkeit als Frucht des Friedens – das ist das Ziel. Um den Frieden zu erreichen, muss man manchmal eben Schwerter zu Pflugscharen schmieden; manchmal muss man aber wohl auch bereit sein, Pflugscharen zu Schwertern zu machen. Das ist für unsere friedensverwöhnten westeuropäischen Ohren schwer zu hören. Für die aber, die sich gegen terroristische Aggressoren zur Wehr setzen müssen, ist sie möglicherweise eine Frage des Überlebens. Dabei ist das Ziel immer die Gerechtigkeit. Sie ist die Leitlinie, an der sich alles Handeln, das sich auf die Bibel beruft, messen lassen muss. Wer sich an ihr orientiert, liest die Bibel in ihrer komplexen Vielschichtigkeit nicht mehr willkürlich, sondern als Ausdruck eine Haltung, die aus der Begegnung mit Gott erwächst. Über ihn heißt es in der Thora:
„Er heißt: Der Fels. Vollkommen ist, was er tut; denn alle seine Wege sind recht. Er ist ein unbeirrbar treuer Gott, er ist gerecht und gerade.“ (Dtn 32,4)
Deshalb ist das Wort Gottes lebendig. Weil es lebendig ist, muss es sich wandeln und nicht in Stein gemeißelt sein. Weil Gott gerecht ist, ist es aber nicht beliebig. Das Maß ist die Gerechtigkeit – und zwar mit Blick auf die Frage, was vor Gott gerecht ist. Wer auch immer die Bibel im Munde führt, weil dieses oder jenes so oder so in der Bibel stünde, muss sich deshalb fragen: Ist gerecht, was ich da sage? Oder gehe ich einfach, weil ich glaube, es steht doch in der Bibel, durch die vermeintlich sichere, breite Tür. Oder nehme ich die Mühe auf mich, der Gerechtigkeit zum Leben zu verhelfen, und zu heilen – so wie es am Ende der zweiten Lesung vom 21. Sonntag im Jahreskreis des Lesejahres C heißt:
„Darum macht die erschlafften Hände und die wankenden Knie wieder stark, schafft ebene Wege für eure Füße, damit die lahmen Glieder nicht ausgerenkt, sondern vielmehr geheilt werden!“ (Hebr 12,12f)
So könnten die, die sich selbstgerecht auf der Seite Gottes wähnen, vielleicht überrascht sein, wer da in den Augen Gottes Gerechtigkeit findet. Dient also dem Leben. Das Wort Gottes ist lebendig! Wählt das Leben!
Glück auf und Frieden über Israel,
Ihr Dr. Werner Kleine, PR
Katholische Citykirche Wuppertal
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