Von der Zumutung des Ungewöhnlichen

Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine, PR

Das Gewohnte kann schnell gewöhnlich werden – vor allem wenn es darum geht, das Gewohnte bewahren zu wollen. Freilich muss man sich schon sehr anstrengen, um die Komplexität der Welt zu übersehen. In früheren Zeiten genügten einfache Erklärungsmuster, um die Welt begreifbar zu machen. Je tiefer der Mensch aber in der Erkenntnis vordringt, desto komplexer und vielschichtiger, verwobener und chaotischer erscheinen die Zusammenhänge. Für nicht wenige ist das beängstigend, so dass der Trieb zur Vereinfachung verständlich ist. Der Rückzug in das Private, die Flucht in virtuelle Scheinwelten und der Ruf nach einer individuellen Freiheit, die mit den Problemen und Zumutungen einer Welt, die sich nicht so einfach vom Menschen beherrschen lassen will, nichts zu tun hat, sind die Folge. Und so werden virale Pandemien, der Klimawandel, die Energiewende und die krisenhaften Bedrohungen des Friedens wohl eher als persönliche Kränkung, denn als Herausforderungen begriffen, gegen die sich der Widerstand regt. Wenn das Gewohnte in Frage steht, treibt es auch die Bequemsten aus dem Sessel – meist wohl virtuell. Weil aber Anstrengungen als Zumutungen empfunden werden, haben diejenigen Konjunktur, die mit einfachen Antworten die Komplexität der Welt übertünchen. Statt sich in demokratische Diskursen streithaft gemeinsam auf den Weg zu machen, sehnt sich so mancher gewöhnlich Gewordene nach einer starken Führung, die von eigenem Denken entlastet. Das ist wohl die tiefste Bedrohung der Gegenwart, weil die, die sich der Anstrengung des Denkens und Handelns entziehen wollen, früher oder später zu einer führbaren Masse degenerieren, die auf Befehl aus den Sesseln getrieben stillzustehen haben. Was glauben Sie denn?

„Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit.“ (Koh 3,3)

Der Prediger des altehrwürdigen Bundes weiß um diese Ambivalenz des Daseins, in der es eine Zeit um Niederreißen und zum Bauen, eine Zeit zum Weinen und eine zum Lachen, eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden gibt. Das Leben ändert sich stetig. Die alten Griechen stellten deshalb dem Chronos als der personifiziertem Zeitfluss mit dem Kairos den günstigen Zeitpunkt gegenüber, dessen Verpassen nicht wieder gut zu machen ist.

Welchen Unterschied das macht, sieht man im Neuen Testament im Gleichnis vom Gastmahl. Ein Gastgeber lädt die Vornehmen ein, die aber das Gewohnte nicht verlassen wollen. Deshalb lädt er Menschen von den Hecken und Zäunen ein. Alle sind eingeladen. So schön, romantisch und einfach ist die Welt des Lukas. Bei Matthäus aber sieht es anders aus. Als in seiner Version des Gleichnisses der gastgebende König den Festsaal betritt, kommt es zum Eklat:

„Als der König eintrat, um sich die Gäste anzusehen, bemerkte er unter ihnen einen Menschen, der kein Hochzeitsgewand anhatte. Er sagte zu ihm: Freund, wie bist du hier ohne Hochzeitsgewand hereingekommen? Der aber blieb stumm. Da befahl der König seinen Dienern: Bindet ihm Hände und Füße und werft ihn hinaus in die äußerste Finsternis! Dort wird Heulen und Zähneknirschen sein.“ (Mt 22,11-13)

Hier sind zwar ebenfalls alle eingeladen; deutlicher als bei Lukas wird aber klar, dass auch die vorbereitet sein müssen. Es ist nicht egal, wie man kommt. Bei Matthäus müssen selbst die an auf den Straßen und Plätzen allzeit bereit sein, damit sie den günstigen Augenblick nicht verpassen. Wie ungewöhnlich!

Wer den Einschmeichelungen der großen Vereinfacher glaubt, mag es vorübergehend behaglich haben. Er hat seine Freiheit aber längst aufs Spiel gesetzt. Wer das Gute, Wahre und Schöne bewahren will, muss zum richtigen Zeitpunkt aufstehen und sich anstrengen. Die wahren Bewahrer hängen nicht an Zuständen, sondern an Werten, wie dem Leben selbst und der unantastbaren Würde des Menschen. Es ist Zeit, dafür aufzustehen und bereit zu sein, bevor es ungemütlich wird!

Dr. Werner Kleine

Erstveröffentlicht  in der Westdeutschen Zeitung vom 19. April 2024.

In der Kolummne “Was glauben Sie denn?” der Westdeutschen Zeitung Wuppertal äußert sich Dr. Werner Kleine regelmäßig zu aktuellen Themen aus Kirche, Stadt und Land. Alle Texte der Kolummne erscheinen auch im Weblog "Kath 2:30":

"Was glauben Sie denn?" - Kath 2:30

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