Ein Bund zum Leben

Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine, PR

Die Münder offen, der Himmel leer. Ihr Rabbi war am Kreuz gestorben, sie aber hatten die lebendige Gegenwart des Auferstandenen erfahren. Einige von ihnen waren in die Heimat in Galiläa zurückgekehrt, in den vertrauten Alltag als Fischer. Nun, 40 Tage nach den Ereignissen, sind sie wieder in Jerusalem. Zehn Tage noch bis zum Schawuot-Fest. An diesem fünfzigsten Tag nach Pesach erinnert das jüdische Volk den Empfang der Zehn Gebote am Berg Sinai. Gott schließt einen Bund mit seinem Volk:

„Wenn ihr auf meine Stimme hört und meinen Bund haltet, werdet ihr unter allen Völkern mein besonderes Eigentum sein.“ (Ex 19,5)

Gott hatte bereits mit Noach und mit Abraham eine Bund geschlossen. Gott mutet den Menschen zu, in seinem Auftrag zu handeln. Als göttliches Ebenbild handelt er an Gottes statt in der Welt. Zum noachitischen Bund gehört die Zusage Gottes, die Welt nie wieder untergehen zu lassen. Der Mensch aber wird daran erinnert, dass der Bund Gottes

„allen lebenden Wesen, allen Wesen aus Fleisch auf der Erde“ (Gen 9,16)

gilt. Alles Lebendige steht unter Gottes Schutz. Alles! Was glauben Sie denn?

Im zweiten Bund nimmt Gott Abraham und seine Nachkommen in die Pflicht:

„Ich richte meinen Bund auf zwischen mir und dir und mit deinen Nachkommen nach dir, Generation um Generation, einen ewigen Bund: Für dich und deine Nachkommen nach dir werde ich Gott sein.“ (Gen 17,7)

Der Bund überschreitet nun das zeitlich begrenzte Leben der Einzelnen.

Im dritten Bund wird nun am Sinai ein ganzes Volk beauftragt. Die Israeliten werden an den Urheber seiner Existenz erinnert, aber auch daran, dass sie als Ebenbild an der Stelle des Schöpfers handeln. Deshalb sollen sie wie er am Sabbat ruhen und so den Sabbat und das Leben heiligen (Ex 20,9-11). Deutlicher kann Gott es kaum machen, welche Würde er dem Menschen damit gibt, aber auch welche Verantwortung: Der Mensch wirkt an Gottes Stelle in und an der Schöpfung mit. Er soll deshalb das Leben schützen, die Welt hegen, die Schöpfung pflegen. Dazu schließt Gott zuerst mit Noah, dann mit Abraham, schließlich mit seinem Volk – einen Vertrag, der Regeln hat. Der Bund wird stetig erweitert. Mit den Zehn Geboten erhält Israel eine Art Grundgesetz.

Christen erkennen in Kreuzestod und Auferstehung Jesu einen vierten Bundesschluss. Weil Jesus nach der Thora wie ein Gottverlassener stirbt (vgl. Dtn 21,23), Gott ihn aber trotzdem rettet, wird das von frühen Judenchristen in Antiochia als Zeichen einer neuerlichen Erweiterung des Bundes Gottes, der jetzt nicht nur einem Volk, sondern allen Menschen guten Willens gilt, die sich zu dem einen Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs bekennen, von dem Christen bekennen, dass er den Gekreuzigten auferweckt. Diese frohe Botschaft muss verkündet werden. Während sie mit offenen Mündern noch zum leeren Himmel starren, wo es nichts mehr zu sehen gibt, beginnt der Auftrag:

„Ihr werdet meine Zeugen sein“ (Apg 1,8)

hatten sie gerade noch gehört. Es ist keine Zeit mehr, fromme Luftschlösser zu bauen. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben wohl in dieser Tradition im Art. 1 des Grundgesetzes grundlegend formuliert:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Kraft gesetzt. Für glaubende Menschen, Juden wie Christen liegt die Würde des Menschen allein schon in seiner Gottebenbildlichkeit begründet. Für Nichtglaubende bildet sie das Grundaxiom einer nach Gerechtigkeit strebenden Gesellschaft. Bis die in Ordnung ist, ist für Glaubende wie Nichtglaubende einiges zu tun. Dazu gehört, die freie Religionsausübung zu gewährleisten (Art. 4,2 GG). Das bedeutet auch, dass religiöse Symbole und Zeichen in der Öffentlichkeit ohne Angst getragen werden können. Deshalb lädt die Solidargemeinschaft Wuppertal am 23.5., dem Verfassungstag, zum zweiten Mal zu einem Kippa-Tag ein. Der Bund zum Leben gilt weiter. Es ist an uns, ihm immer neu Gestalt zu geben.


Dr. Werner Kleine

Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 20. Mai 2023.

Das verlorene Paradies

Dr. Werner Kleine
Dr. Werner Kleine, PR

Tohuwabohu – Wüste und Wirrnis sind der Stoff, aus dem Gott eins die Welt erschuf. Mit der Schilderung dieses Urzustandes beginnt die erste Schöpfungserzählung am Anfang der Bibel. Bei näherer Betrachtung erweist sie sich eigentlich als ein Hymnus, der sieben Strophen mit identischem Aufbau aufweist: Gott tut etwas; dann sieht er, dass es gut ist. Dann wird es Abend und dann Morgen, bevor die Schöpfungstage am Ende jeder Strophe durchgezählt werden. Die hymnische Form zeigt, dass es sich hier um keinen dokumentarischen Bericht handelt. Vielmehr deutet die strenge Form an, dass Gott Ordnung schafft, wo es wüst und wirr war. Aus Chaos wird Kosmos. Was glauben Sie denn?

Gott wird am siebten Tag ruhen. Das Werk ist vollbracht – und muss doch gehegt und gepflegt werden. Wohl nicht zuletzt deshalb erschafft Gott am sechsten Tag den Menschen als sein Bild. Und so setzt Gott den Menschen als Statthalter in seine Schöpfung. Der Mensch kann mit der Schöpfung nicht tun und lassen, was er will. Er muss Gott Rechenschaft für sein Schalten und Walten ablegen. Er soll ihm nacheifern und aus ungezügelter Natur lebendige Kultur schaffen, Ordnung in das Chaos bringen und das, was wüst und wirr ist, so hegen und pflegen, dass eine lebenswürdige Welt entsteht. Das ist der Schöpfungsauftrag Gottes.

Wer in diesen Tagen durch die Elberfelder Innenstadt spaziert, kann allerorten sehen, wie schwer der Mensch sich mit dieser Zumutung des Schöpfers tut. Nicht nur der Bahnhofsvorplatz am Döppersberg, auch der Von-der-Heydt-Platz zeigen, wie schwer sich der Mensch tut, der Idee Gottes gerecht zu werden. Wo ehedem Bäume Schatten spendeten, am alten Brunnen Kinder spielten, und Menschen über einen kleinen und liebenswerten Platz flanierten, plauderten und einfach lebten, ist nun einen schattenlose Asphaltwüste. Wo eine kleine Oase in der Innenstadt war, ist es wieder wüst geworden. Nun zieren goldene Bänke das verlorene Paradies. Die passen in die zahnbröckelnde Stadt, in die Else Lasker-Schüler verliebt war, wie Schotter in lebendige Gärten. Sie erinnern doch sehr an das Schicksal des Königs Midas von Phrygien. Dem nämlich wurde alles zu Gold, was er berührte – auch die Speisen, so dass er reich geworden armselig verendet. Auch eine goldene Wüste bleibt eine Wüste!

Tatsächlich muss das Paradies kein Garten sein. Das war es am Beginn der Zeit – so jedenfalls erzählt es der zweite Schöpfungsmythos, der vom Heranreifen des Menschen im Garten Eden erzählt. Den aber muss er, durch die Erlangung der Fähigkeit, Gut und Böse zu unterscheiden, verlassen. Diese Fähigkeit ist kein Sündenfall, sondern ein Ausweis der Fähigkeit, als Statthalter Gottes wirken zu können. Nicht ohne Grund heißt es im Hebräerbrief:

„Jeder, der noch mit Milch genährt wird, ist unerfahren im richtigen Reden; er ist ja ein unmündiges Kind; feste Speise aber ist für Erwachsene, deren Sinne durch Gebrauch geübt sind, Gut und Böse zu unterscheiden.“ (Hebr 5,13f)

Wenn nun aber mündige Bürger dieser Stadt angesichts der changierenden mit goldenen Einsprengseln durchsetzten Grautöne eben nicht sehen, dass es gut ist, dann sollten die städtischen Statthalter in sich gehen. Schotterreiche Gärten des Grauens gibt es schon genug. Eine Stadt des Grauens braucht niemand Es ist nicht schlecht, eine Stadt zu bauen. Im Gegenteil: Das Paradies als Sehnsuchtsort erscheint in der Offenbarung des Johannes am Ende der christlichen Bibel sogar als Stadt. Die ist zwar auch golden und aus Kristall, hat aber ein besonders Merkmal – einen Baum:

„Zwischen der Straße der Stadt und dem Strom, hüben und drüben, steht ein Baum des Lebens. Zwölfmal trägt er Früchte, jeden Monat gibt er seine Frucht; und die Blätter des Baumes dienen zur Heilung der Völker.“ (Offb 22,2)

Der Baum des Lebens stand schon im Garten Eden. Wo Bäume sind, kann der Mensch sein. Pflanzt Bäume!

Dr. Werner Kleine

 

Erstveröffentlicht in der Westdeutschen Zeitung vom 11. November 2022.

In der Kolummne “Was glauben Sie denn?” der Westdeutschen Zeitung Wuppertal äußert sich Dr. Werner Kleine regelmäßig zu aktuellen Themen aus Kirche, Stadt und Land. Alle Texte der Kolummne erscheinen auch im Weblog "Kath 2:30":

"Was glauben Sie denn?" - Kath 2:30