Ausgabe 16, Dezember 2015
Björn Langenfeld diktiert Anne Leichtfuß

Zurück zur Übersicht

„Manchmal ist der Gedanke wichtiger als die Form“
Unter Kollegen: Zu Besuch in der Redaktion von Ohrenkuss – einer ganz und gar nicht gewöhnlichen Zeitung

Text und Bild Tim Neumann

Scheinbar ist es eine Zeitungsredaktion wie jede andere. Sie liegt mitten in Bonn, bis zum Rhein sind es nur wenige Meter. Im Gegensatz zu anderen Redaktionen kämpft diese aber nicht um die Glaubwürdigkeit von ihren Lesern oder gegen sinkende Auflagen, wie es sonst in der Branche häufig zu beobachten ist. Die Zeitung Ohrenkuss…da rein, da raus wird ausschließlich von Menschen mit Down-Syndrom geschrieben und ist damit in Deutschland einzigartig.

„Ich war ein Kleinkind und zarthaft. Das ist echt lange her“, hat Marc Lohmann für die aktuelle Ausgabe diktiert. Sie trägt den Titel „Damals heute morgen“ und stellt die Ohrenkuss-Redakteure ganz persönlich vor. Mit Bildern und Texten geben diese Einblicke in ihre Gedanken und Gefühle. Dabei muten manche der Werke schon autobiografisch an. Die Texte werden genauso übernommen, wie die Autoren sie geschrieben oder diktiert haben; mit allen Fehlern, so ist es gewollt. „Die Texte werden langweilig, wenn man sie korrigiert“, erzählt Redaktionsassistentin Anne Leichtfuß. „Man merkt sofort, ob sie so abgedruckt wurden, wie sie entstanden sind, oder ob sie geglättet wurden.“ Manche Autoren schlagen die Begriffe akribisch im Wörterbuch nach und überprüfen, ob sie richtig geschrieben sind. „Manchmal ist aber auch der Gedanke wichtiger als die Form, und dann kommt es so raus, wie es rauskommt, und dann bleibt es auch so“, beschreibt Anne Leichtfuß anschaulich, was Ohrenkuss so besonders macht.

Komplett selbst finanziert

Ohrenkuss ist 1998 als Teil eines Forschungsprojekts entstanden. Damals war Stand der Wissenschaft, dass Menschen mit Down-Syndrom nicht lesen und schreiben können. Doch die promovierte Humangenetikerin Katja de Bragança machte gegenteilige Erfahrungen. Sie gründete die Zeitung, um zu zeigen, dass auch Menschen mit Down-Syndrom Texte lesen und Texte schreiben können. Das Projekt Ohrenkuss war auf vier Ausgaben angelegt, doch die Autoren wollten weiterschreiben. Heute besteht die Redaktion aus ungefähr 70 Autoren, die darüber hinaus Ausstellungen mitgestalten und ihre Texte auch bei Lesungen vortragen. Ohrenkuss ist keinem externen Träger verpflichtet, und kann sich mit gut 3000 Abonnenten komplett selbst finanzieren.

Während die aktuelle Ausgabe im November veröffentlicht wurde, arbeitet die Ohrenkuss-Redaktion bereits an der nächsten Ausgabe. Die 20 Autoren, die aus Bonn und Umgebung kommen, treffen sich jeden Dienstag zur Redaktionssitzung, um über Ausstellungen und Lesungen zu sprechen und natürlich um neue Texte zu verfassen. Sie bringen ihre Gefühle und Assoziationen sehr offen zu Papier. Anna-Lisa Plettenberg ist schon seit sieben Jahren bei Ohrenkuss dabei. „Manche schreiben selber, handschriftlich, ich finde das mit diktieren besser, weil ich dann mehr denken kann, was ich schreiben möchte, und dann sag ich das zu den Assistenten und dann schreiben die das alles auf“, erzählt die 21-jährige Autorin. In der nächsten Ausgabe wird der erste Text von Natalie Dedreux veröffentlicht. Die 16-Jährige sieht in Ohrenkuss eine Chance: „Ohrenkuss bedeutet für mich, dass es Spaß macht, schreiben zu lernen.“

Der Name der Zeitung entstand vor knapp 18 Jahren bei der ersten Redaktionssitzung. Einer der Redakteure gab damals in überschwänglicher Freude der Chefredakteurin einen Kuss aufs Ohr. „Man hört jeden Tag ganz viel und das geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus“, erklärt Anne Leichtfuß, „aber das Wichtige bleibt hängen, und das ist dann ein Ohrenkuss.“

Information

Das Down-Syndrom beschreibt die dreifache Ausbildung des 21. Chromosoms, anstelle der sonst üblichen zweifachen Ausbildung. Daher ist auch die Bezeichnung Trisomie 21 gebräuchlich. Laut des Forschungsprojektes „Touchdown21“ leben in Deutschland etwa 50.000 Menschen mit Down-Syndrom. Benannt wurde es nach dem Neurologen John Langdon-Down, der das Syndrom erstmals 1866 beschrieb.

Zurück zur Übersicht