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Fast alles eine Frage des Transits


Trauer und Lebensfreude ganz nah beieinander am Día de los Muertos im südmexikanischen Bergdorf San Juan Chamula. (Foto: Øle Schmidt)

Von metaphysischen Familienangelegenheiten und abgesoffenem Hühnchen in Tamarindosoße. Friedhofsbesuch bei Abrahams Verwandtschaft und deren Ahnen am Tag der Toten im Süden Mexikos.

Von Øle Schmidt, San Cristóbal de Las Casas, Mexiko

An diesem überaus sonnigen Morgen im südmexikanischen Hochland mit Wolken in Form von Fabelwesen und Männern in weißen Fellröcken haben sich die großen Menschheitsfragen im kleinen indigenen Bergdorf San Juan Chamula um einige Nuancen verschoben, bedeutende Nuancen. Der spirituelle Zweiklang »Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin?« wird auf dem kollektivtherapeutischen Volksfest Día de los Muertos weniger als Ort denn als Wegstrecke verstanden, als eine Frage des Transits also, der wiederum untrennbar verbunden ist mit kulinarischen Handlungsanweisungen.

Immer mehr Menschen finden sich auf dem anarchisch herausgeputzten Friedhof im Bundesstaat Chiapas ein, um ihre verstorbenen Verwandten zu empfangen, auch die zwölfköpfige Familie von Abraham.

Abraham Gómez Vázquez, 48, ein Fotograf, der sein Heimatdorf schon vor geraumer Zeit für die benachbarte Großstadt San Cristóbal de las Casas verlassen hat, ist angespannt, ihn plagt das Lampenfieber. »Lass’ uns einen genehmigen«, schlägt er beim Eingießen des Feuerwassers vor, das sie hier in der Region Posh nennen. Mutig leert Abraham das Pinchen in einem Zug.


Brennende Kerzen spenden vermissten Verwandten das Licht, um aus der Dunkelheit des Totenreiches ins Diesseits zurückzufinden. (Foto: Privat)

Als ältester Sohn leitet Abraham das Ritual, für das sich so wie jedes Jahr die ganze Familie versammelt hat, auch die Großmutter mit dem weiten Herz und den Argusaugen, die Drahtzieherin des Totentages. Sie bringt die Familienmitglieder zusammen; sie hat das Wissen über die Rituale, und dieses an Abraham weitergegeben. Und der will sie nicht enttäuschen.

Über dem geschäftigen Friedhof kreist der kulturell angepasste Zweiklang der sich noch im Transitanflug befindlichen verstorbenen Ehrengäste: »Wie kommen wir zurück?« (zum Friedhof nämlich, von dort, wo sie jetzt sind, da sie nicht mehr da sind, wo sie zu Lebzeiten waren.) Und daran anschließend: »Wie zufrieden gehen wir dann ins Totenreich zurück?« Letzteres richtet sich an die Verwandtschaft (das sind die, die noch da sind, wo sie sich immer schon wähnten, und zwar lebenslänglich): Haben sie endlich auf dem Zettel, dass knuspriges Hühnchen nicht in Tamarindosoße absaufen sollte? Gibt es dieses Mal den richtigen Maisschnaps? Und: bitte, bitte keine Zigarren mehr aus der Region!

Fragen also, die an störungsanfälligen Familienfestivitäten auch in unseren Breitengraden leicht abgewandelt durchaus auf der Tagesordnung stehen, wenn auch nicht auf dem eigenen Grab, zugegeben. Hier in San Juan Chamula kann der Feiertagsspeiseplan eine nicht zu unterschätzende Brisanz entfachen, da die angemessene Verköstigung der Ahnen ein Herzstück des Totentages ist. Aber dazu später mehr.

»Meine Großmutter sagt, dass unsere Ahnen zwei Tage im Jahr freihaben, um uns zu besuchen, und unsere Gaben in Empfang zu nehmen.« Abraham antizipiert die sich aufdrängende Anschlussfrage und versichert: »Ich weiß nicht, von welchem Ort die Ahnen kommen, ich weiß nicht, ob es einen Himmel gibt, oder eine Hölle.«


Der eigentlich beschauliche Friedhof in San Juan Chamula gleicht am Tag der Toten einem Tollhaus, um acht Uhr Morgens. (Foto: Privat)

Dass der Jahresurlaub der Verwandten aus dem Totenreich von höchster Stelle zeitlich penibel geregelt ist, ist im indigenen Chiapas nichts, was aufgeregt diskutiert wird, es ist kulturelles Allgemeingut. Und so gleicht der eigentlich beschauliche Friedhof von San Juan Chamula am Tag der Toten einem Tollhaus, um acht Uhr morgens.

Die unzähligen Gräber sind mit der rötlichen Erde der Region aufgeschüttet, übersät mit duftenden Piniennadeln, inmitten eines kitschigbunten Blumenmeers. Mittlerweile Hunderte Besucher lachen und weinen, trinken Hochprozentiges und rauchen. Sie reden, nein, sie schreien gegen die ohrenbetäubende Musik an. An jeder Ecke spielt eine Mariachiband auf, als sei es der letzte Tag. Trompeten tösen und Gitarren scheppern, mehrstimmiger Gesang verbreitet leidenschaftliche Tristesse und unerhörte Lebenslust. Mittendrin thront die Ruine der früheren Kirche wie ein Kunstwerk.

»Wir haben Orangen, Teigtaschen mit Bohnen, Kerzen und Todesblumen mit zum Friedhof gebracht«, erzählt Abraham von der rituellen Praxis. »Jetzt rufen wir im Gebet Chulel an, den großen Geist, damit unsere Ahnen auch sicher bei uns ankommen, und genießen können, was wir für sie vorbereitet haben.«

Todesblumen oder auch Cempasúchil tragen bei uns den vergleichsweise harmlosen Namen Ringelblumen, und sind von großer Bedeutung für den Día de los Muertos. »Erst putzen wir das ganze Haus, damit sich die Ahnen auch wohlfühlen«, sagt Abraham. »Dann verteilen wir die Todesblumen auf der Straße und dem Grundstück.« Das leuchtende Orange ihrer Blüten und deren intensiver Geruch soll den Ahnen den Weg weisen, damit sie auf dem Transit zu ihren Angehörigen nicht die richtige Ausfahrt ins Diesseits verpassen.

Der Día de los Muertos, der Tag der Toten, ist einer der wichtigsten Feiertage Mexikos. Im ganzen Land wird er von Ende Oktober bis Anfang November begangen. Im indigenen Süden wohl mit dem meisten Herzblut. Hier ist der Totentag eine metaphysische Familienangelegenheit, ein spirituelles Ritual mit festem Ablauf. Auf dem Wiedersehenfest mit ihren verstorbenen Verwandten versöhnen sich die Lebenden mit dem Tod. Der Tod wird Teil ihres Lebens und spendet Trost. Denn auch wenn sich die Ahnen nach den Festtagen wieder auf den Weg ins Totenreich machen, werden sie im nächsten Jahr zurückkehren, das steht für viele Mexikaner außer Frage.


Vor den festlich geschmückten Gräbern beten die Lebenden zum großen Geist Chulel, dass die Verstorbenen den Weg zu ihnen finden. (Foto: Øle Schmidt)

Abraham trägt eine traditionelle Weste aus weißem Schaffell, seine Haut ist dunkel, in seinem Blick liegt etwas Sanftes. Behutsam trennt er die orangefarbenen Blüten der Todesblumen vom Stiel, und verteilt sie auf den Gräbern seiner Ahnen. Darauf legt er kleine Colaflaschen und geviertelte Früchte.

Es ist ein Jammer, dass all dies hier nicht zu sehen ist, aber es war die Bedingung, um diese Geschichte über den Tod in San Juan Chamula zum Leben zu erwecken. Staunen, fragen und wundern, ja! Fotos machen? Nein! Abraham und seine Familie gehören dem indigenen Volk der Tzotzil an, und deren mitunter sehr traditionelle Kosmovision besagt, dass mit jedem Klick ein Stück der Seele gestohlen wird.

Vor zwei Wochen hat Abrahams Familie mit den Vorbereitungen für den Tag der Toten begonnen. Sie haben das teure Rindfleisch geräuchert, und das Pan de Muertos in der Bäckerei bestellt, das Brot der Toten. »Alles, was im Leben wichtig ist, sollen auch unsere Ahnen bei ihrem kurzen Aufenthalt genießen können«, sagt Abraham, »Gemeinschaft, gutes Essen und zum Abschluss einen Schnaps.« Die Verköstigung der Ahnen ist Ehrensache, das Mahl nach ihrer entbehrungsreichen Anreise aus dem Totenreich sollte sitzen. Gekocht wird Zuhause mit Herzblut, serviert wird auf dem Friedhof, auf eigenen Tellern für die Ahnen.

Gestern Abend dann hatte die Familie im Haus der Großmutter den Altar errichtet, die Ofrenda. »Sie hat den großen Geist Chulel um Erlaubnis gebeten, als ältester Sohn habe ich ihn dann geschmückt«, erzählt Abraham. »Mit Fotos der Verstorbenen, bunten Blumen und weißen Kerzen, mit Weihrauch. Unter den Altar habe ich eine Karaffe mit Wasser gestellt, damit sich unsere Ahnen nach der Reise die Hände waschen können.«

Abraham schaut zu seiner Großmutter, die versunken an einem Grab sitzt. Mit ihrem monotonen Klagegesang betrauert sie den Verlust ihrer Ahnen. Und auch wenn die sich bislang auf dem Friedhof nicht blicken lassen, zweifelt Abraham nicht an der Anwesenheit der dahingeschiedenen Gäste aus dem Totenreich. »Wenn ich ein Glas Wasser für sie auf den Tisch stelle, und am nächsten oder übernächsten Tag ist darin weniger Flüssigkeit, dann weiß ich, dass die Seelen angekommen sind.« Es gäbe noch andere Belege für deren Präsenz, sagt er. »Wenn ich diese Sehnsucht spüre, mit der man eine vermisste Person erwartet. Und manchmal zeigen uns auch der Wind und der Regen an, dass die Ahnen jetzt bei uns sind.«


Trompeten tösen und Gitarren scheppern: An jeder Ecke spielt eine Mariachiband auf, als sei es der letzte Tag. (Foto: Øle Schmidt)

Der Tag der Toten ist eine mehr als tausend Jahre alte spirituelle Tradition, deren Wurzeln in der Kultur der Maya und Azteken liegen. Für die Vorfahren der heutigen Indigenen waren die Toten Teil der Gemeinschaft, die sie mit Ritualen lebendig hielten, im Kreislauf von Leben und Tod. Noch heute glauben viele Mexikaner, dass jedes Jahr zum Ende der Erntezeit ihre verstorbenen Verwandten zu Besuch aus dem Jenseits anreisen, um gemeinsam das Leben zu feiern. So wie heute in San Juan Chamula.

Europäischen Besuchern ist der Totentag eher fremd, und meist wissen sie nicht, dass wiederum ihre verstorbenen Vorfahren an dessen heutiger Ausprägung beteiligt sind. Vor mehr als 500 Jahren stachen die Eroberer um Kolumbus für die spanische Krone und mit Segen und Bekehrungsauftrag der katholischen Kirche in See mit Kurs auf die Neue Welt. Als die mitgereisten Missionare damit scheiterten, den Tag der Toten zu verbieten, legten sie das indigene Fest unter Zwang auf die christlichen Feiertage Allerheiligen und Allerseelen. So versprachen sie sich Kontrolle über die Menschen und deren Glauben. Diese Form des Synkretismus, der Vermischung religiöser Traditionen, hat Bestand. Bis heute wird der Día de los Muertos an den christlichen Feiertagen begangen.

Auch die europäischen Konquistadoren, deren Grausamkeit und eingeführten Krankheiten bis zu sechzig Millionen Menschen das Leben kosteten, machten Erfahrung mit den Tücken des Transits. Obwohl er vor der Küste des heutigen Haiti vor Anker gegangen war, war Kolumbus bis zu seinem Tod davon überzeugt, er habe sein Ziel Indien erreicht.

»Ich weiß nicht, ob der Tag der Toten wahrhaftig ist«, sagt Abraham nachdenklich, »oder ob die vorherigen Generationen uns diese Vorstellung weitergeben, damit wir beten und die Seelen unserer Vorfahren ehren.« Manchmal sei er sich nicht sicher, dass seine Ahnen tatsächlich einmal im Jahr zurückkehren, vielleicht werde diese Tradition fortgeführt, um die indigene Gemeinschaft zu festigen. Und die steht beileibe nicht nur wegen der Konkurrenzveranstaltung Halloween kulturell und sozial unter Druck im zutiefst rassistischen Mexiko.

Verbindend ist die widersprüchliche Beziehung vieler Mexikaner zum Tod, der einen festen Platz in ihrem Leben einnimmt. Süßlich und melancholisch, wenn er an Tagen wie diesen leidenschaftlich gefeiert wird. Bleihaltig und bestürzt, wenn Angehörige aus ihrem Leben gerissen werden, ob nun von Killern der Mafiakartelle, oder von korrupten Polizisten.

Auch ich habe am Tag der Toten in San Juan Chamula auf meine Weise mit dem Transit zu tun. Bei der Suche nach einem stillen Örtchen in diesem ekstatischen Durcheinander schiebe ich mich durch Menschentrauben und lande schnell in einer Sackgasse. Weder gibt es Steine, die für mich ersichtlich die Gräber markieren, noch gibt es kleine Pfade zwischen ihnen. Kein Weg, kein Ausweg. Mein innerer Schlichtungsversuch – schließlich seien ihre Bewohner ja entweder selbst noch im Transit aus dem Totenreich, oder bereits im Schoße ihrer Familie gelandet – scheitert an meiner Bildungsbürgertumssozialisation, die es nicht zulässt, letzte Ruhestätten mit Füßen zu treten. Erlösung schenkt mir ein Mann gehobenen Alters, der sich unterhakt und mir versichert, alle würden an diesen Tagen den Weg über die Gräber nehmen.


Die orangefarbenen Blüten der Todesblume und deren intensiver Geruch sollen für einen reibungslosen Transit der Gäste aus dem Jenseits zum Friedhof sorgen. (Foto: Øle Schmidt)

Abraham spricht mit seinen Ahnen, er schmückt ihre Gräber und leitet sie als schamanistischer Fluglotse auf dem Weg zurück ins Diesseits. Und er sucht Antworten auf die große Frage, wohin auch er eines Tages wohl gehen wird. Bevor wir uns verabschieden, hält Abraham sanft meinen Arm fest, um mir etwas anzuvertrauen. »Gerne würde ich dem Tod einmal begegnen«, flüstert er. »So wie ein Hund, der in der Nacht die Seelen und Geister sehen kann. Ich bin in der Nacht umhergegangen, habe Ausschau gehalten nach Wesen aus der Unterwelt. Bis jetzt habe ich sie nicht gefunden.« Abrahams Großmutter verlangt nach ihrem Enkel. Als er zurückkommt, sagt er: »Auch wenn ich Angst davor habe, würde ich ihnen wirklich gerne begegnen.«

Øle Schmidt lebt als freier Journalist und Autor in Deutschland und Lateinamerika. Aus El Salvador hat er für WDR und SWR berichtet, für Misereor und Amnesty International.

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