Ausgabe 17, Juni 2016

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Die Stadt der Geflohenen

Glosse Daniela Ullrich

Flucht hat viele Gesichter. Im vergangenen Jahr ist die Flucht von Hunderttausenden Menschen über das Mittelmeer und die Balkanroute nach Europa in den Fokus der medialen Berichterstattung gerückt. Flucht hat viele Ursachen: Den Klimawandel, der Überflutungen, Dürre und Hunger mit sich bringt; vor allem ist es aber die Angst vor kriegerischen Auseinandersetzungen, vor Gewalt und Elend, die Menschen dazu treibt, ihre Heimat zu verlassen – auf der Suche nach einem sicheren Leben.

Flucht hat Konsequenzen. Im vergangenen Jahr hieß Bundeskanzlerin Angela Merkel Menschen auf der Flucht in Deutschland willkommen – und mehr als eine Million kam seither. Vielen Deutschen bereitet der Zuzug so vieler Schutzsuchender Sorgen. Es herrscht die Sorge vor „Überfremdung“ und die Sorge, vom immer kleiner werdenden Kuchen nun noch mehr abgeben zu müssen. Und das zusammen befeuert Ressentiments. Dabei lohnt ein Blick in die Geschichte. Dass so manche Stadt ohne Zugezogene, ohne Fremde, ohne Migranten überhaupt nicht hätte prosperieren könnte, das vergessen viele, die heute meinen, die MS Deutschland sei nun aber wirklich voll.

Wuppertal ist dafür ein Paradebeispiel: So hätten Elberfeld und Barmen nie den Aufstieg zum deutschen Manchester geschafft, wären nicht Tausende zugezogen, um sich in den Fabriken entlang der Wupper abzurackern. Das zeigen die Zahlen deutlich: In Elberfeld lebten zu Beginn der 1850er Jahre nicht einmal 40.000 Menschen. 1928, also kurz vor Gründung der Stadt Wuppertal, hatte Elberfeld knapp 200.000 Einwohner. Ähnlich gestaltete sich die Bevölkerungsentwicklung in Barmen. Wuppertal – die Stadt der Geflohenen, der Frühindustrialisierung sei Dank.

Dabei waren das dicht bewaldete Tal der Wupper und seine umgebenden Hügel eigentlich ein Spätzünder in Sachen Bevölkerungswachstum; und bis ins 16. und 17. Jahrhundert nur spärlich besiedelt. Erst vom 7. Jahrhundert an hatten sich altgermanische Volksstämme im Wupperraum niedergelassen. Als erste Befestigung des Ortes Elberfeld gilt die gleichnamige Burg. Und diese war eine so genannte Fliehburg, wie der Geschichtsschreiber Widukind im 10. Jahrhundert festhält.

In einer solchen Anlage wohnte man nicht dauerhaft, dorthin zog sich die Bevölkerung vor marodierenden Kriegshorden zurück. Die ersten Bewohner des heutigen Elberfelds, wenn auch nur auf Zeit, waren also Menschen auf der Flucht. Zu allem Überfluss nannte man die im Anschluss an die Burg entstandene Siedlung „Freiheit“. Doch war die Freiheit nicht für jeden groß genug, zumindest nicht im konfessionellen Sinne.

So stellte im 18. Jahrhundert die Vertreibung von Elias Eller und seiner Rotte die Gründung des heutigen Ronsdorf sicher – und das kam so: Anna vom Büchel, die zweite Ehefrau des bereits genannten Elias Eller, trat in Elberfeld als Prophetin auf und konnte schnell ein großes Publikum für ihre Offenbarungen gewinnen. Schon im ersten Jahr ihrer göttlich inspirierten Vorträge zählten 50 Haushalte zu ihren Anhängern. Eller wiederum versuchte, in allen deutschen Herzogtümern, im heutigen Holland und der Schweiz auf Seelenfang zu gehen, um möglichst viele Siedler für das neue Zion zu finden.

Doch in der Heimat wuchs der Groll gegen ihn und seine Sektierer: Die Vertreter der reformierten Gemeinden in Elberfeld zum Beispiel waren naturgemäß keine Freunde der Lehre Ellers, und so blieb dem Bandfabrikbesitzer 1737 nichts anderes übrig, als den Hof „Ronsdorf“, auf dem Eller 1690 auch geboren worden war, von seinem Bruder Samuel zu kaufen. Auch die umliegenden Länder kaufte er und gründete dort die Siedlung für seine Glaubensgemeinschaft. Das neue Zion sollte übrigens 1000 Jahre währen. Dumm nur, dass Ellers Frau 1743 starb und Ronsdorf 1754 aus der Synode ausschied. Danach verfiel die Sekte nämlich.

Ronsdorf aber überlebte und wurde 1929 Teil der Stadt Wuppertal. Die hat heute übrigens um die 350.000 Einwohner, von denen 60.000 Ausländer sind. Ein Fünftel von ihnen hat einen türkischen Pass. Dass einige der Älteren ab den 1950er Jahren als sogenannte Gastarbeiter nach Wuppertal gekommen waren, ist anzunehmen. Damals war halt Platz in den Fabriken, der Wiederaufbau lief auf Hochtouren und das Wirtschaftwunder stand schon vor der Tür. Der Deutsche wollte konsumieren wie der Amerikaner, und der Millionste Gastarbeiter bekam damals einen Motorroller geschenkt. Als Bayern im Dezember 2015 den Millionsten Schutzsuchenden registrierte, wurde nicht einmal mehr geklatscht.

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