Ausgabe 15, September 2015

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Mehrere Generationen bedeuten nicht automatisch Mehrgenerationenhaus
Zu Besuch im Nachbarschaftsheim am Platz der Republik, im Wohnprojekt Rudolfstraße und in der Klimaschutzsiedlung Malerstraße

Über 50 Jahre stand das Nachbarschaftsheim im Schatten des alten Bunkers. Foto: Nachbarschaftsheim

Text und Bild Eduard Urssu

„Heute schon an morgen denken“ – ein frommer Wunsch, der kaum unterschiedlicher interpretiert werden kann. Häufig wird er als finanzielle Absicherung gedeutet, kann aber auch die künftigen Lebensumstände in den Fokus nehmen. Wie will ich leben? Und, nicht zu zuletzt: mit wem möchte ich leben? Fragen, die nicht erst mit Mitte 50 akut werden, und die letzte Frage zielt dabei auch gar nicht auf den Lebenspartner ab. Gemeint ist eher die Gesellschaft im Sinne von Freundschaften und vor allem den direkten Nachbarschaften. Denn auch wenn dies noch in jungen Jahren abwegig klingt, können fremde Menschen die persönliche Lebensqualität positiv beeinflussen. Zum Beispiel im etwas abstrakt klingenden Konzept „Mehrgenerationenhaus“. Abstrakt, weil der Begriff mehrere Deutungen zulässt und zudem unterschiedlich verwendet wird. Bedeutet Mehrgenerationenhaus, dass mehrere Generationen unter einem Dach leben? Ein klares Jein! Vielleicht ist die Vorstellung dieser vermeintlich idealen Lebensgemeinschaft auch nur eine Kopie harmonischer Großfamilien früherer Tage. Gerade in Zeiten systematischer Abgrenzung und Entfremdung des Individuums von Gruppen, mag diese vermeintliche Illusion harmonischer Beziehungen – in der Wissen, Erfahrung und Zuneigung von einer Generation an die nächste weitergegeben wird – nahezu utopisch wirken. Was ist es also nun, ein Mehrgenerationenhaus? Sucht man den kleinsten gemeinsamen Nenner, dann führt die Definition des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zumindest etwas weiter: „Mehrgenerationenhäuser sind zentrale Begegnungsorte, an denen das Miteinander der Generationen aktiv gelebt wird. Sie bieten Raum für gemeinsame Aktivitäten und schaffen ein neues nachbarschaftliches Miteinander in der Kommune.“ Von miteinander leben ist erst einmal nicht die Rede. Aber zumindest von: „Jüngere helfen Älteren und umgekehrt.“

Quäker-Projekt

In diesem Sinne versteht sich auch das Nachbarschaftsheim am Platz der Republik. Es wurde 1948 von amerikanischen Quäkern gegründet, um die Deutschen nach dem 2. Weltkrieg zur Demokratie zu führen. „Ziel war es, die Wertevorstellung zu vermitteln, dass jeder Mensch gleich viel wert ist “, sagt Johanna Niedermüller, Sozialpädagogin und Leiterin des Seniorenforums im Nachbarschaftsheim. Mittlerweile ist das Nachbarschaftsheim aus dem am ehemaligen Bunker angrenzenden Gebäude weggezogen. Nicht weit, nur einen Steinwurf entfernt. Und nicht weit entfernt habe man sich von der Grundidee von einst. Den Idealen der Quäker, sagt Johanna Niedermüller, sei man auch heute noch verpflichtet. Nur sind die Anforderungen und Betätigungsfelder mit der Zeit immer vielfältiger geworden. „Wir leben hier nicht unter einem Dach. Das würde das ehemalige Pfarrershaus auch gar nicht hergeben, bei über 1.000 Menschen, die sich hier einbringen. Aber für diese Menschen fördern wir den kulturellen Austausch zwischen den Generationen, aber auch Kulturen.“ Eine besondere Herausforderung war in den 90er-Jahren die Integration der ausländischen Senioren. Als Gastarbeiter gekommen, „hat man recht spät realisiert, dass viele in Deutschland bleiben werden. Meist sind es die Frauen, die sich einbringen. Seitdem haben wir eine Gruppe für Senioren mit Migrationshintergrund“, sagt Johanna Niedermüller. Dass die Tanzgruppe türkischer Mädchen bei den gemeinsamen Weihnachtsfeiern auftritt, ist auch keine Seltenheit. Aber der Austausch zwischen den Generationen im Nachbarschaftsheim passiert oftmals ganz beiläufig. „Das ist manchmal wie im Zoo“, scherzt Johanna Niedermüller. Sie steht im hauseigenen kleinen Café und deutet mit dem Zeigefinger auf die große Fensterfront. Dahinter liegt der Garten der angeschlossenen Kindertagesstätte. „Manchmal stehen die Kinder an der Scheibe und beobachten die Senioren drinnen, andersmal ist es genau umgekehrt“, sagt Johanna Niedermüller.

Lebendiges Wohnen

An der Rudolfstraße 131 ist momentan keine Wohnung frei. In Cronenberg könnte sich demnächst eine zweite Wohngruppe bilden.

Kinder sucht man im Wohnprojekt in der Rudolfstraße 131 vergebens. Vielleicht wirkt der Ausspruch „Um das von vornherein klarzustellen: Wir sind kein Pflegeheim!“, schon fast wie eine Rechtfertigung. Mit diesen Worten werden regelmäßig die Infoabende des Vereins „Lebendiges Wohnen an der Wupper“, kurz LeWoWu, eröffnet. Seit 2008 gibt es diese Wohngemeinschaft. Die barrierefreien Wohnungen befinden sich im ehemaligen Schwesternheim der Vereinten Evangelischen Mission (VEM). „Nur, damit keine Missverständnisse aufkommen. Es ist schon oft vorgekommen, dass wir mit einer Form von ‚Betreutes Wohnen’ verwechselt werden“, erklärt LeWoWu-Vereinsmitglied Marlene Hamburger. Stattdessen will sich der Verein als ein gemeinschaftliches Wohnprojekt verstanden wissen, bei dem gemeinsam wohnen auch miteinander kommunizieren bedeutet. „Dabei sind wir ein Wohnprojekt für alle Generationen“, sagt Marlene Hamburger. Wandern, gemeinsame Kinobesuche, Bastelabende und mehr ist möglich. „Alltagskontakte können, müssen aber nicht sein. Ich pflege auch weiterhin meine Kontakte nach außen“, bestätigt Claudia Wilkop. Die Chemie-Ingenieurin ist mit 45 Jahren mit Abstand das jüngste LeWoWu-Mitglied. Und da bekommt die Fassade des sogenannten Mehrgenerationenhauses auch einen kleinen Riss. Eine Verjüngungskur würden die Vereinsmitglieder zwar begrüßen, denn gegen Kinder habe man nichts. Allein schon, um dem eigenen Anspruch eines Mehrgenerationenhauses gerecht zu werden. Aber es mangelt schlichtweg an Wohnraum. Alle Wohnungen im Gebäudekomplex sind derzeit vermietet. Und obwohl der Mietpreis von 10 Euro pro Quadratmeter doch eher ambitioniert erscheint, melden bei den Infoabenden viele Interessierte Bedarf an. Wie auch Ursula Uebing. Die 52-jährige Mutter von zwei Kindern erlebt in ihrem persönlichen Umfeld wie wertvoll zwischenmenschliche Kontakte sind. Allerdings sind es Verlusterfahrungen: Der eine Sohn studiert in München, der andere hat sich bei der Lebenshilfe in Cronenberg gut eingelebt. „Und an einer Nachbarin in unserem Haus, die kürzlich verstorben ist, und deren einzige Bezugsperson ich gewesen bin, merke ich, wie wertvoll eine Gemeinschaft ist.“ Kontakt zu den übrigen Bewohnern im Haus hat sie wenig. Es bleibt oftmals bei Lippenbekenntnissen: „Falls Sie mal Hilfe brauchen, dann melden Sie sich einfach.“ Wenn in der Rudolfstraße 131 Wohnungen frei werden, dann müssen sich Interessierte beim Verein bewerben. Zwar ist der Vermieter die Vereinte Evangelische Mission, aber es besteht zwischen dem Wohnprojekt und der VEM eine Kooperationsvereinbarung. „In der Regel folgt die VEM unseren Mieterempfehlungen“, erklärt LeWoWu-Mitglied Wilhelm Müsken.

Kein Überraschungsei

Orte der Kommunikation: Die Laubengänge in der Malerstraße 20.

Ein generationenübergreifendes Miteinander? Leben wie in der dörflichen Idylle und alles in einem energiesparenden Passivhaus mit großem Innenhof, auch noch in der Wuppertaler Nordstadt? Dass das geht, hat die Baugruppe Malerstraße bewiesen. Innerhalb von fünf Jahren haben Einzelpersonen, Paare und Familien diese Idee ungesetzt. Eine Idee, wie urbanes Zusammenleben auch aussehen kann. Im Mai wurde das Bauprojekt als 18. Klimaschutzsiedlung in Nordrhein-Westfalen gefeiert. Doch Klimaschutz steht in der Malerstraße 20 nicht an erster Stelle. Auf den Laubengängen stehen vereinzelt Stühle und Tische, auch manche Topfpflanze behauptet ihren Platz entlang des Gangs. Auffällig: „Einige Türen stehen offen, ganz bewusst“, sagt Abraham Roelofsen, einer von drei Rentnern in der Malerstraße. „Das fördert das kommunikative Miteinander. Man trifft sich hier, ganz ungezwungen, oder unten im Hof.“ Dort soll eine Boule-Bahn entstehen. Auch ein wenig Gemüse wird noch gepflanzt. Zwischenzeitlich schlüpfen Kinder und Jugendliche durch das Eingangsportal. Die Schule ist aus. Man grüßt sich mit Namen. „Der jüngste Bewohner heißt Rudi und ist gerade einmal ein Jahr alt“, weiß Abraham Roelofsen. Insgesamt gibt es 23 Wohneinheiten, 19 davon werden von Familien bewohnt, sowie drei Praxen. Eine gute Mischung, wie Roelofsen findet, nicht nur weil eine Praxis seine Frau Margot führt. Diese Idylle ist aber kein Zufallsprodukt. Fast generalstabsmäßig wurde jeder einzelne Schritt geplant, vorbereitet und durchgeführt. Die Fassadenfarbe, die Gestaltung des Gartens und der Dachterrassen, und selbst die Form und Größe der Klingelschilder sind Ausdruck des Gemeinschaftswillens. Umgesetzt von vielen Arbeitsgruppen, die ihre Ergebnisse zur Diskussion stellten. Und wenn mal eine Diskussion aus dem Ruder lief, so regelte das die Arbeitsgruppe „Kommunikation“. Einen Wermutstropfen hat das Wohnprojekt an der Malerstraße 20 aber dann doch: Die Idylle ist nicht billig zu haben. Pro Quadratmeter werden bis zu 2.500 Euro aufgerufen. In den unteren Etagen ist der Wohnraum schon für 2.100 Euro zu haben. Einige wenige Wohnungen werden vermietet. Falls Wohnraum frei wird, dann haben die „Alteingesessenen“ ein Vorkaufsrecht.

Information

Der Vorstand des Wohnprojekts „Lebendiges Wohnen an der Wupper“ bietet immer am letzten Dienstag im Monat eine Infoveranstaltung in der Rudolfstraße 131 an. Weitere Informationen vorab gibt es bei Marlene Hamburger unter der Rufnummer 69 86 88 und auf der Internetseite www.lewowu.net. Ein zweites LeWoWu-Wohnprojekt soll in Wuppertal-Cronenberg entstehen.

Die Baugruppe Malerstraße dokumentiert ausführlich die einzelnen Entwicklungsschritte des Wohnprojekts auf der Internetseite www.malerstrasse.de. Anfragen werden per E-Mail über die Adresse info@malerstrasse.de beantwortet.

Das Nachbarschaftsheim am Platz der Republik präsentiert im Internet unter www.nachbarschaftsheim-wuppertal.de sein umfangreiches Kursangebot.

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