Stimmen und Gedanken zu Papst Leo XIV. – vom katholischen Kontinent
»Nie wieder Krieg!«, hieß es in Rom bei Papst Leos Amtseinführung, San Cristóbal de Las Casas im Süden Mexikos schwört auf Liebe.
Text und Bilder Øle Schmidt, San Cristóbal de Las Casas, Mexiko
Zugegeben, der Plan war ein anderer, aber es führen wohl tatsächlich viele Wege nach Rom, auch aus Lateinamerika bis in den Vatikan. Fünfundzwanzig Mails hatten wir ’rausgeschickt, an Bischöfe und christliche Menschenrechtsorganisationen in Mexiko und Chile, Kolumbien, Argentinien und Peru, um nur einige zu nennen. Wie bewerten Sie die Wahl des Nordamerikaners Robert Prevost zu Papst Leo XIV.? Ist dies ein Rückschritt für den Globalen Süden? Welche kirchlichen wie gesellschaftlichen Probleme drücken den katholischen Kontinent, also Lateinamerika, auf dem sage und schreibe vier von weltweit zehn Katholiken leben? Ist Papst Leo wohl fähig, diese Probleme anzupacken – und auch willens?
Doch es kam anders. Vielleicht, weil unsere Anfragen nicht durchdrangen – haben Sie mal versucht, die Mailadresse eines Bischofs ’rauszuschlauen? Vielleicht, weil unser Anliegen in den Vorzimmern der katholischen Macht unwiderruflich im Fegefeuer des Spam-Ordners verschwand? Vielleicht aber auch, weil der verblichene Franziskus immer noch seine Finger im Spiel hatte, und uns auf verschlungenen Wegen zu den Antworten von Laien geführt hatte, deren Antworten er für bedeutsamer hielt? Oder etwa doch, weniger metaphysisch aufgeladen, weil die Herren Hochwürden meinen, Besseres zu tun zu haben, als sich mitunter kritischen Fragen zu stellen? Pressefragen aus dem zugegebenermaßen ziemlich fernen Deutschland, deren Beantwortung Wertschätzung und eine Haltung voraussetzen. Fußballreporter und Therapeuten würden an dieser Stelle fragen: Haben die angeschriebenen Anführer dieser Kirche ein Mentalitätsproblem?
»Ich habe mich gefreut, dass der Papst als erstes Frieden gefordert hat.« Lupita, die kleine indigene Dame mit dem faltigen Gesicht, bei der ich mein Gemüse kaufe, lächelt, als ich sie nach Leo XIV. frage. »Nie wieder Krieg!«, das hatte er am Tag seiner Amtseinführung auf dem Petersplatz ausgerufen. »Ich hoffe sehr, dass Papa León«, so wird der Neue in diesen Breitengraden genannt, »nicht nur Frieden in der Ukraine meinte.« Jetzt ist Lupita auf Betriebstemperatur. »Auch Mexiko leidet sehr unter Gewalt. Wir Frauen werden von Männern geschlagen und ermordet, die Kartelle nehmen uns Töchter und Söhne, und die Regierung lässt die Aktivisten verschwinden, die von diesem Unglück erzählen.« Wir sehen uns schweigend an. »Das ist nicht gerecht«, sagt Lupita, Anfang sechzig, und ruft mit ihrem Pokerface den überhöhten Gringo-Preis auf, den ich seit Jahren für ihre Avocados und Mangos bezahle.
San Cristóbal de Las Casas, im Süden Mexikos, hatte den Neuen in der Ewigen Stadt nicht wirklich mit offenen Armen empfangen, zumindest anfangs. Wie eine dunkle Wolke lag die eine bange Frage über den Dächern auf mehr als zweitausend Metern Höhe, ein kollektiver Seufzer, ein Stoßgebet: Ay Dios, warum ausgerechnet ein Gringo?!? Frei übersetzt: Warum zum Teufel, lieber Gott, hast du einen US-Amerikaner als deinen Stellvertreter ausgewählt? Das demonstrativ zur Schau gestellte Ressentiment gegen den dominanten Nachbarn aus dem Norden (»Armes Mexiko, so fern von Gott und so nah an den USA«) gehört zum guten Ton, und ist neben der Verehrung der Jungfrau von Guadalupe eine Erzählung, auf die sich die meisten Mexikaner einigen können. Als nach ein paar Tagen dann durchgesickert war, dass der Gringo lange Jahre Bischof in Peru war, und darüber hinaus den peruanischen Pass in der Tasche hat, drehte sich der Wind.
Moderne Kerzen in der geschichtsträchtigen Kathedrale von in San Cristóbal de Las Casas, Chiapas, Mexiko.
»War doch klar, dass die einen von uns wählen mussten«, sagt Ernesto mit den schwarzen Hosenträgern über dem weißen, leicht fleckigen Hemd. Papst Franziskus habe seine Sache einfach zu gut gemacht. »Das hätte er sich nicht besser ausdenken können«, triumphiert der fünfzigjährige Schreiner, als wir die Kirche im historischen Zentrum betreten. »Ein Papst aus dem reichen, mächtigen Nordamerika, der in Peru das arme und indigene Südamerika kennenlernt, perfecto!« Während eine Orgel knarzt und Kerzen flackern, grüßt vom blumengeschmückten Altar die Virgen, die Jungfrau von Guadalupe. »Vorsicht, Pfütze!«, warnt mich Ernesto, »verfluchte Regenzeit!« Er bekreuzigt sich routiniert. »Wir sollten nicht die Bodenhaftung verlieren!« Ernesto sieht die Wahl von Papst Leo als Zeichen der dringend benötigten Einheit der katholischen Kirche. »Wir alle sollten die Hand ausstrecken, ob reich oder arm, aus dem Süden und dem Norden, ob traditionell oder modern.« Ernesto schaut mich fragend an. »Macht das Sinn, was ich sage?«
Vielleicht liegt es in der Dringlichkeit der Biografie ihres Leiters Nery Rodemas begründet, dass einzig die ODHAG unsere Fragen schriftlich beantwortet hat. Der Anwalt hatte das Menschenrechtsbüro der Erzdiözese in Guatemala-Stadt von seinem Freund und Mentor Monseñor Gerardi übernommen, als dieser die Aufklärung von Massakern der Armee mit seinem Leben bezahlt hatte. »Ich hoffe sehr, dass unsere Kirche auch unter dem neuen Papst ihren Blick auf die Vergessenen richtet, auf die Ausgestoßenen und Armen«, schreibt Rodemas, »dass wir Christen solidarischer mit unseren Mitmenschen sind.« Er wünscht sich, dass Leo den eingeschlagenen Weg fortsetzt.
»Die Prävention von sexuellem Missbrauch, Dezentralisierung und finanzielle Transparenz, mehr Beteiligung von Frauen. Der synodale Prozess kann der Kirche helfen, sich der Welt und den derzeitigen Lebensumständen zu nähern – ohne dabei ihr Wesen aufzugeben.« Rodemas Geschichte zeigt, dass katholische Menschenrechtsarbeit sowohl weltliche Gerechtigkeit stiften als auch moralische Glaubwürdigkeit der Kirche reparieren kann. Mit der ODHAG strengte er ein Verfahren wegen Staatskriminalität an: drei hochrangige Militärs wurden wegen Mordes an Monseñor Gerardi zu jeweils 30 Jahren Haft verurteilt. »Wir Laien sollten uns als wichtigen Teil der katholischen Kirche begreifen, unsere Stimme erheben, Salz und Licht auf Erden sein.«
Die Jungfrau von Guadalupe ist die Nationalheilige des per Verfassung säkularen Mexikos. Der Besitzer dieser Camioneta bittet: »Kleine Jungfrau, beschütze uns auf dem Weg«
Als ich unsere Vermieterin Doña Lety nach dem neuen Papst frage, platzt aus ihr heraus, wie stolz sie doch ist – auf Papst Franziskus: »Er hat Lateinamerika ausgezeichnet repräsentiert!« Die pensionierte Lehrerin achtet auf die Etikette, darauf, was andere denken. Umso erstaunlicher, dass sie kein Geheimnis darum macht, dass ihre sehr katholische Familie ein Stundenhotel im hiesigen Rotlichtbezirk betreibt. »Immer mehr Lateinamerikaner verlassen die katholische Kirche und suchen ihr Glück bei den Evangelikalen, das macht mir Angst«, gesteht die 68-Jährige. »Warum gehen sie, was vermissen sie in unserer Kirche? Manchmal weiß ich selbst nicht mehr, wofür wir stehen«, seufzt sie. Frauenrechte, Rassismus und Migration, Konsumfetisch und erodierender Glaube, dazu eine Gewaltepidemie im Land – wie ihre kriselnde Kirche ringt auch Doña Lety um Antworten, um die richtige Mischung aus Überlieferung und Update. »Americaaaa!«, ruft Doña Lety ihre Muchacha, »was hältst du von Papa Léo?« Nein, die junge Putzfrau America (ja, sie heißt tatsächlich so!), sagt nicht das Naheliegende, dass Robert Prevost die Idealbesetzung sei, die beiden Amerikas zu versöhnen (vielleicht, weil sie nicht »Americas« heißt). Die Zwanzigjährige lässt nur diesen einen Satz fallen. »Der Heilige Geist hat die Bischöfe bei ihrer Wahl des neuen Papstes bestimmt gut beraten, jetzt können wir vertrauen.«
Den folgenden Zeilen muss eine Konjunktiv-Warnung vorangestellt werden: Padre Marcelo Pérez konnte unsere Fragen nicht beantworten, denn er wurde ermordet, bevor wir sie ihm stellen konnten. Es war eine öffentliche Hinrichtung nach seinem Gottesdienst in San Cristóbal de Las Casas, keine fünfhundert Meter Luftlinie von dem Schreibtisch, an dem diese Vorbemerkung geschrieben wurde. Mutmaßlich hätte den indigenen Priester die Herkunft des neuen Papstes nicht sonderlich interessiert, wohl eher dessen Worte und Taten. Aus der Erbsünde der lateinamerikanischen Kirche, sich im Zweifel auf die Seite der Mächtigen und Ruchlosen zu schlagen, hatte Padre Marcelo Konsequenzen gezogen. Der überaus populäre Priester zeigte sich nahbar und mutig. Nicht nur für die Menschen in seiner Gemeinde legte er sich mit den korrupten staatlichen Autoritäten an und mit den brandschatzenden Kartellen. Der Einundfünfzigjährige machte den Spagat, laut auszusprechen, was viele nur noch zu denken wagen im erschütterten Mexiko – und gleichzeitig zu vermitteln zwischen den Kontrahenten. Frieden und Würde waren für Padre Marcelo religiöse Gebote und politische Notwendigkeiten. Insofern hätte es ihm wohl imponiert, dass Papst Leo ein Ende der Kriege fordert und ein Wirtschaftsmodell kritisiert, »das die Ressourcen der Erde ausbeutet und die Ärmsten an den Rand drängt«. Bestimmt hätte er dem Papst auch verziehen, dass dieser das Wort Kapitalismus nicht in den Mund nahm.
Vor der Kathedrale in San Cristóbal de Las Casas erinnert die Diözese an Padre Marcelo Pérez. »Er wurde umgebracht, weil er mit den Armen war«, sagt Altbischof Raul Vera.
Nach zwei Erinnerungsmails passiert doch noch etwas. Die Pressestelle der Diözese in Valparaíso, Chile, bittet um Fristverlängerung. Seitdem haben wir nichts mehr gehört von Bischof Jorge Vega aus der Hafenstadt am Pazifik. Nun, zumindest diese Botschaft ist angekommen. Und dann das: eine höflich-distanzierte Mail aus Buenos Aires. »Danke für Ihr Interesse an einem Interview mit Monseñor García Cuerva. Leider können wir Ihre Anfrage jedoch nicht beantworten, da der Erzbischof derzeit keine Pressetermine wahrnimmt.« Oha, der Erzbischof aus der Heimat von Papst Franziskus denkt also nicht daran, seine Finger krumm zu machen, wenn er freundlich gebeten wird, seine Meinung darzulegen. Ob Erzbischof García Cuerva und seine so schweigsamen Kollegen wohl seinerzeit bei Franziskus’ legendärer Weihnachtsansprache zugegen waren? Der Papst hatte der versammelten Kurie, dem vatikanischen Regierungsapparat, fünfzehn Krankheiten attestiert, die eine dringend benötigte Reform der Kirche blockierten. Mit der Urgewalt einen Punkrockers wetterte Franziskus gegen »spirituellen Alzheimer«, einen »Terrorismus des Geschwätzes«, gegen Raffgier und Luxussucht unter Kardinälen. Vielleicht hatte Erzbischof García Cuerva nicht zugehört, als sein Landsmann Franziskus damals auch die »Krankheit einer mentalen und spirituellen Erstarrung« des Klerus beklagte, sowie die »Krankheit der Rivalität und Eitelkeit« Ebenfalls nicht bekannt ist, ob Franziskus torpedierte Presseanfragen eher der »mentalen Erstarrung« oder der »Eitelkeit« zugerechnet hätte.
Anyways. Auch wenn unser Plan ein anderer war, so führen doch tatsächlich viele Wege nach Rom, auch aus Lateinamerika bis in den Vatikan. Bliebe noch die aufgeworfene Frage der Fußballreporter und Therapeuten zu klären: Haben die angeschriebenen Anführer dieser Kirche ein Mentalitätsproblem?
Øle Schmidt lebt als freier Journalist und Autor in Deutschland und Lateinamerika. Aus El Salvador hat er für WDR und SWR berichtet, für Misereor und Amnesty International.