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Zwischen Metalldetektoren und Baklava
Gedanken zum Leben im israelisch-palästinensischen Konflikt.

Text Dr. Till Magnus Steiner

Ich bin blind. Ich sehe die bewaffneten Soldaten auf den Straßen von Jerusalem nicht mehr; und wenn ich einkaufe, passiere ich wie selbstverständlich einen Metalldetektor. Auf meinem Weg zur Arbeit komme ich an zwei Gedenktafeln für die Opfer von Selbstmordattentaten vorbei, und nicht selten beobachte ich, wie Polizisten auf der Straße Palästinenser anhalten, um ihre Identität zu überprüfen. Von Terroranschlägen erfahre ich nur aus dem Internet – selbst wenn das Blut der Opfer und das der Attentäter auf Straßen vergossen ist, die nicht weit von mir entfernt sind. Ich lebe in einer Alltagsblase, in der die tägliche Terrorangst und die gleichzeitige Unterdrückung der Palästinenser trotz ihrer Realität oft nicht zum wahrgenommenen Lebensalltag gehören. Im Liberty Bell Park, ganz in der Nähe unserer Wohnung, sitzen täglich sowohl jüdisch-israelische als auch palästinensische Familien, deren Kinder nebeneinander schaukeln, nacheinander rutschen. Meine Frau, eine israelische Jüdin, arbeitet zusammen mit palästinensischen Christen und Muslimen. Ein guter Freund von mir ist Palästinenser, er fährt Taxi. Oft – vielleicht zu oft –, wirkt alles ganz normal in Jerusalem. Wenn am Samstag, dem jüdischen Schabbat, die Geschäfte geschlossen sind und es eher ruhig auf den Straßen ist, geht man einfach in die lebendige Altstadt, und erfreut sich dort an der Verschiedenartigkeit. Man bummelt durch das christliche Viertel, guckt sich aus Olivenholz geschnitzte Kreuze und andere Devotionalien an und kauft im muslimischen Viertel Baklava, ein unwiderstehlich leckeres in Sirup eingelegtes Gebäck aus Blätter- oder Filoteig, das mit gehackten Wallnuss, Mandeln oder Pistazien gefüllt ist. Dann scheint alles ganz normal. Und doch platzt diese Blase der scheinbaren Normalität immer wieder und macht die dahinterliegende Realität sichtbar. Wenn ein palästinensischer Junge mit einem Messer auf einen jüdischen Passanten einsticht; wenn palästinensische Politiker davon sprechen, alle Juden in das Mittelmeer treiben zu wollen; wenn israelische Siedler den Tempelberg mit den heiligen muslimischen Stätten für sich beanspruchen; wenn der Staat Israel palästinensischen Familien ihr Land enteignet.

Ich lebe in einer Alltagsblase

Ich lebe in einem Land, in dem 16 Prozent des Staatshaushaltes für Militär und Sicherheit ausgegeben werden: Im Jahr 2015 waren es 57.000.000.000 New Israeli Shekel, etwa 14 Milliarden Euro. Doch vor dem Hass, vor der Verzweiflung gibt es keinen absoluten Schutz. In einer Situation, in der das Wort „Frieden“ ein billiges Wort geworden ist, ist Hoffnung das Material, aus der die Blase besteht, in der man den Alltag bestreitet. Viele können vielleicht nicht einmal mehr definieren, worauf sie im israelisch-palästinensischen Konflikt noch hoffen. Für die einen ist es vielleicht nur die Hoffnung darauf, nicht dem Terror zum Opfer zu fallen. Für die anderen ist es vielleicht nur die Hoffnung darauf, nicht unter den Repressalien leiden zu müssen. Der US-amerikanische Schriftsteller Henry Louis Mencken schrieb einmal: „Hoffnung ist der krankhafte Glaube an den Eintritt des Unmöglichen.“ Mit der Bibel könnte man jedoch antworten: „Wenn Ihr nicht glaubt, so habt Ihr keinen Bestand.“ (Jesaja 7,9) Auf Hebräisch: אִ֚ם לֹ֣א תַאֲמִ֔ינוּ כִּ֖י לֹ֥א תֵאָמֵֽנוּ, ausgesprochen: lō ta¬amīnū kī lō ¬tē¬amēnū. Dieser biblische Spruch ist ein Wortspiel mit dem aus der Kirchensprache bekannten „Amen“.

Festhalten, Standhaftigkeit

Dieses Wort ist aus der christlichen Liturgie nicht wegzudenken, und auch in der Alltagssprache verwenden wir es, um etwas abschließend zu bekräftigen. Wer „Amen“ sagt, verpflichtet sich zu dem zuvor Gesagten. Es ist also keine neutrale Aussage, sondern ein Bekenntnis, zu dem es in Tat und Wahrheit zu stehen gilt. Die Grundbedeutung des Wortes, die hinter dem Vers aus dem Buch Jesaja und hinter dem Amen aus der Kirchensprache steht, ist „Festhalten, Standhaftigkeit“. Noch genauer übersetzt, meint das Wortspiel in Jesaja 7,9: „Wenn ihr nicht standhaft seid, werdet ihr keinen Bestand haben.“ Bedeutet Glauben doch, nicht von dem Vertrauen auf Gott abzurücken, sondern das Tun Gottes für zuverlässig zu halten und sich darin festzumachen. Im Hebräischen hängt der Begriff „Glauben“ ( אֱמוּנָה, gesprochen: ämūnā) eng mit dem Begriff „Wahrheit“ (אֱמֶת, gesprochen ämät) zusammen, da sich beide Wörter von derselben Wortwurzel (אמן) ableiten. „Wahrheit“ steht für die Stimmigkeit von Fakten und für Zuverlässigkeit, ist aber im Hebräischen zusätzlich durch die parallel auftretenden Begriffe wie „wohlwollende Liebe“, „Gerechtigkeit“ und „Recht“ definiert. Glaube ist keine Bewegungs- und Regungslosigkeit, sondern vielmehr das Vertrauen auf Gerechtigkeit, auf Liebe und Recht und das Festhalten dieser Werte als Grundstützen der Gesellschaft/der Menschheit. Wenn die Hoffnung der Menschen hier in diesem Land sich auf diese Werte ausrichtet, dann könnten der Glaube und die Religionen weniger Teil des Problems als Teil der Lösung werden.

Alltägliche Standhaftigkeit

Während ich oft verzweifle im Angesicht der israelischen und palästinensischen Politik, und schockiert bin über extremistische Gruppierungen auf beiden Seiten, bewundere ich doch auch immer wieder, wie sowohl Israelis als auch Palästinenser standhaft durch ihren Alltag gehen und nicht verzweifeln. Der israelisch-palästinensische Konflikt beeinflusst auch diesen Alltag, aber die alltägliche Standhaftigkeit ist wohl der erste hoffnungsvolle Schritt, der zeigt, dass am Ende des Weges eine bessere Zukunft stehen kann.

Zu diesem Alltag gehören heute Metalldetektoren und Polizeikontrollen, aber eben auch jüdisch-israelische und palästinische Kinder, die nebeneinander schaukeln und nacheinander rutschen. Und ich ermahne mich selbst, beides wahrzunehmen und nicht blind durch den Alltag zu gehen: „Meide das Böse, und tu das Gute; suche Frieden, und jage ihm nach!“ (Psalm 34,15) – Amen.

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