Till Magnus Steiner ist katholischer Theologe. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Exegese des Alten Testamentes. Er lebt und arbeitet zur Zeit in Jerusalem.

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„Denn Ihr seid selbst Fremde …“
Flüchtlinge im Angesicht der Bibel

Text Till Magnus Steiner

Sowohl in Europa als auch in Israel ist die Flüchtlingspolitik meist nicht von Gastfreundschaft, sondern von Abschottung geprägt. Daher hat mich ein Satz, den ich vor kurzem gehört habe, sehr berührt: „Eines Tages, wenn der Frieden zurückgekehrt ist, lade ich Euch ein in den Sudan und dort werdet Ihr sehen, wie schön mein Land ist.“ So klingt ein von sudanesischen Flüchtlingen geschriebenes und aufgeführtes Theaterstück aus, das Einblick in ihr Leben in Israel gibt. Der Mann auf der Bühne ist ein sudanesischer Muslim, der vor Krieg und Unterdrückung nach Israel geflohen ist, aus Angst um sein Leben. Er ist einer von mehr als 60.000 Flüchtlingen aus dem Sudan und Eritrea, die seit 2007 nach Israel gekommen sind. Für sie ist Israel nicht das gelobte Land, sondern die Hoffnung auf Überleben, auf ein menschenwürdiges Leben, bis sie wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Ihr Status in Israel ist jedoch nicht geklärt. Die Regierung verweigert ihnen die Anerkennung als Flüchtlinge gemäß der Genfer Konvention, und so haben sie keine Perspektive. Die Politik in Israel betrachtet sie als illegale Migranten, und gewährt ihnen kaum Rechte. Bis 2007 war für Flüchtlinge aus Ostafrika der Weg über Libyen die erste Route in die Europäische Union, um dort Asyl zu beantragen. Politische Abkommen von EU und Italien mit Libyen gegen „illegale Migration“ haben diesen Weg geschlossen. Für die vorwiegend christlichen und muslimischen Flüchtlinge aus Ostafrika wurde der jüdischgeprägte Staat Israel so zum Ort der neuen Hoffnung – eine Hoffnung, die sich durch die Bibel gut begründen lässt.

Nach dem Auszug der Israeliten aus Ägypten, von der Sklaverei in die Freiheit, befahl Gott: „Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ (Buch Levitikus, Kapitel 19, Vers 34 = Lev 19,34). Gott erlegte den Israeliten auf, dass sie jeden Fremden, auf hebräisch ger (גר), als Einheimischen, auf hebräisch ezrach (אזרח), behandeln sollen. Der hebräische Ausdruck ezrach (אזרח), der in der Einheitsübersetzung mit „Einheimischer“ übersetzt wird, beschreibt den Status einer Person als Vollbürger und bezeichnet im modernen Hebräisch den Staatsbürger. Der hebräische Ausdruck ger (גר), der dem Vollbürger gegenübergestellt wird, ist ein Sammelbegriff für „Schutzbürger“, „Fremdlinge“ und „Gäste“, die nicht zu Israel gehören, aber mit den Israeliten leben. In den Büchern der Propheten wird im Alten Testament sogar betont, dass die Fremden in Israel unter dem besonderen Schutz Gottes stehen – sie gehören zu den personae miserae, den Hilfs- und Schutzbedürftigen, derer sich Gott im Besonderen annimmt. So ergeht zum Beispiel im Buch des Propheten Maleachi folgendes Gotteswort: „Und ich werde mich euch nähern zum Gericht und werde ein schneller Zeuge sein gegen […] jene, die den Tagelöhner um seinen Lohn bringen, Witwe und Waise unterdrücken und den Fremden wegdrängen und mich nicht fürchten!“ (Mal 3,5) Der Fremde soll nicht aus der Gesellschaft verdrängt, sondern in ihr aufgenommen werden. Gemäß dem Buch Levitikus gilt für den Fremden wie für den Israeliten dasselbe Gesetz, auf dem sich die Gesellschaft aufbaut: „Gleiches Recht soll bei euch für den Fremden wie für den Einheimischen gelten; denn ich bin der Herr, euer Gott.“ (Lev 24,33) Dieses biblische Ideal, das die Integration des Fremden und somit auch der Flüchtlinge in die Gesellschaft verlangt, und einer Abschottung der Gesellschaft diametral entgegensteht, basiert auf dem im Alten Testament festgehaltenen kulturellen Gedächtnis, dass die Heilsgeschichte Gottes mit Israel und der gesamten Menschheit eine Geschichte Gottes mit Flüchtlingen ist. Der Ahnvater des Volkes Israel, Abraham, floh wegen einer Hungersnot nach Ägypten (siehe Gen 12,1). David, der große König Israels und der Ausgangspunkt der messianischen Hoffnung, flüchtete als politisch Verfolgter vor Saul in das Königreich Gat (siehe 2 Sam 19,18-19). Gott entfaltete seine Geschichte mit Israel entlang von Flüchtlingsschicksalen. Dies erfährt im Neuen Testament noch eine Steigerung. Als Christ bekennt man, dass in Jesus Christus Gott Mensch geworden ist. Angesicht des Anfangs des Matthäusevangeliums bedeutet dies, dass Gott als wehrloser Säugling auf die Welt gekommen ist, sein menschliches Leben direkt bedroht war und er seine menschliche Existenz als Flüchtling begann (siehe Mt 2,13). Josef und Maria fliehen mit Jesus nach Ägypten, um dem Kindsmörder Herodes zu entkommen. Gott selbst ist in seiner Menschwerdung ein Flüchtling geworden.

Sowohl das Alte als auch das Neue Testament bieten für Flüchtlinge eine Zusage der Hoffnung. Abraham, David und Jesus waren Flüchtlinge, die Gott auf Ihrem Weg begleitet und behütet hat. Gott wird als Anwalt der Flüchtlinge dargestellt und ist gemäß dem christlichen Glauben selbst zu einem Flüchtling geworden. Diese Zusage der Hoffnung wird jedoch sowohl in Israel als auch in Europa häufig enttäuscht. Die Bibel predigt Gastfreundschaft und in der Realpolitik dominieren politische und ökonomische Bedenken. Es mag sein, dass sich mit der Bibel keine Politik machen lässt, aber es gilt auch das Wort, dass sich die Wirklichkeit dem Ideal annähern sollte und nicht andersherum. Es wäre ein Anfang, wenn die Einladung des sudanesischen Flüchtlings am Ende des Theaterstücks mit dem Angebot der Gastfreundschaft an ihn beantwortet würde – sei es in Israel oder in Europa.

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