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„Mit Zuversicht auf den Fels Israels“
Die israelische Identität und die Unabhängigkeitserklärung

Text Till Magnus Steiner

Welcher Religion jemand angehört, definiert in Israel, vielleicht mehr noch als in anderen Ländern, die Identität einer Person – und die Religion der Mitglieder der Gesellschaft definiert die Identität des Staates. In der israelischen Gesellschaft wird immer wieder kontrovers diskutiert, ob Israel ein jüdischer Staat ist, beziehungsweise sein soll – und was das Adjektiv „jüdisch“ in diesem Zusammenhang eigentlich bedeutet. Nicht jeder Israeli ist Jude und nicht jeder Jude ist Israeli. Das Judentum ist sowohl eine Religion als auch ein Volk und das Adjektiv „jüdisch“ bezeichnet sowohl eine Religionszugehörigkeit als auch eine Volkszugehörigkeit. Ein israelischer Freund von mir bezeichnet sich selbst als atheistischer Jude und sieht darin keinen Widerspruch. Aber das Adjektiv „jüdisch“ stellt für den Staat Israel seit der Staatsgründung notwendigerweise eine Herausforderung dar.

Die Unabhängigkeitserklärung Israels vom 14. Mai 1948 beginnt mit der klaren historischen Aussage: „Im Land Israel entstand das jüdische Volk“ – und der gesamte folgende Text bezieht sich auf die Geschichte des Judentums. Aber über die Frage, ob in der Unabhängigkeitserklärung Gott genannt werden darf, ob ein Gottesbezug Bestandteil des Dokuments sein soll, entbrannte ein heftiger Streit. Die religiösen Vertreter bestanden darauf, dass Gott in dem Dokument zumindest erwähnt wird, während die sozialistischsäkularen Vertreter strikt dagegen waren. Ahron Zisling, ein Vertreter der linken Arbeiterpartei, sagte damals sehr deutlich: „Ich kann kein Dokument unterschreiben, dass sich in irgendeiner Art auf einen Gott bezieht, an den ich nicht glaube!“ Der Streit zwischen den beiden Lagern wurde mit einem Kompromiss gelöst. Man einigte sich auf die Bezeichnung „Fels Israels“ und formulierte den Beginn des Abschlußparagraphen folgendermaßen: „Mit Zuversicht auf den Fels Israels setzen wir unsere Namen zum Zeugnis unter diese Erklärung, […]“. Zwar nahm man damit die traditionelle und biblische Sprache des Judentums auf, verblieb aber gleichzeitig in einer Bildsprache, die vom Leser selbst entschlüsselt und mit Sinn gefüllt werden muss.

Ein religiöser Jude betet vor dem Achtzehnbittengebet, dem Hauptgebet des jüdischen Gottesdienst: „Fels Israels, erhebe Dich zur Hilfe Israels!“ Diese Bitte nimmt die Sprache des biblischen David aus dem 2. Buch Samuel, Kapitel 23, Vers 3 auf: „Der Gott Israels hat gesprochen, der Fels Israels hat zu mir geredet: […].“ Dieser Vers ist eindeutig: Der Gott Israels wird als Fels Israels bezeichnet – Gott ist sozusagen der Fels in der Brandung für das Volk Israel. Aber David Ben-Gurion, der erste Ministerpräsident Israels, hat in verschiedenen Reden die Bezeichnung „Fels Israels“ aus der Unabhängigkeitserklärung nicht in Bezug auf den Gott Israel erklärt, sondern als symbolisch-säkularen Bezug auf die Stärke Israels. Bereits in der Bibel kann „Fels Israels“ mehrdeutig verstanden werden. Im Buch Jesaja, im Kapitel 30, Vers 29 heißt es: „[…]ihr werdet Freude im Herzen tragen wie der, der mit Flötenspiel dahinzieht, um auf den Berg des HERRN zu kommen, zum Fels Israels.“ Man kann diesen Vers auf zweierlei Art lesen: Entweder bezieht man „Fels Israel“ in Parallele zu der Bezeichnung „Berg des HERRN“ auf den Zionsberg mit dem Tempel oder man identifiziert den „Fels Israels“ mit Gott, der auf dem Zion im Tempel als anwesend gedacht wird. Diese Offenheit der Bildsprache ist es, die den Kompromiss in der Formulierung der Unabhängigkeitserklärung Israels ermöglicht hat. Religiöse Sprache verwendet Bilder, um das Unaussprechliche zumindest andeuten zu können – doch das Bild muss vom Leser selbst entschlüsselt werden. Das Bild des Felsens für Gott verdeutlicht, dass Gott zuverlässig ist und beständig. Er bietet Zuflucht und zugleich fundamentalen Halt. Im Alten Testament wird aber nicht nur Gott als Fels bezeichnet. Im Buch Jesaja, Kapitel 51, Vers 2 wird Abraham in seiner Funktion als Patriarch und Ahnenvater der Israeliten als Fels, als festes Fundament auf dem Israel gegründet wurde, benannt – Abraham wird als das Fundament der Heilsgeschichte Israels bezeichnet.

Mit dem Kompromissvorschlag „Fels Israels“ haben die Gründerväter des Staates Israels bewusst offen gelassen, was das Fundament des Staates Israel ist. Für den Staat Israel bedeutet dies, dass die Frage nach der Identität konstitutiv zum Staat dazugehört: Israel ist ein jüdischer Staat – aber was genau das „Jüdische“ an diesem Staat ist, bleibt hoffentlich für die israelische Gesellschaft weiterhin eine offene Frage. In diesem Sinne ist die Unabhängigkeitserklärung Israels in ihrer Entstehung im Bezug auf die Frage nach dem Gottesbezug ein Lehrstück für die Frage, auf welchem Fundament eine Gesellschaft „aufgebaut“ wird. Für Ahron Zisling war der „Fels Israels“ als Fundament des Staates Israels nichts anderes als ein abstrakter Begriff für die Stärke des neuen Staates. Rabbi Jehuda Leib Maimon hingegen, ebenso ein Unterzeichner des Dokumentes, erkannte in „Fels Israels“ den Gott, zu dem er betete. Ahron Zisling hat die Unabhängigkeitserklärung nur mit seinem Namen unterschrieben. Rabbi Jehuda Leib Maimon hat zu seiner Unterschrift noch hinzugesetzt: „mit Gottes Hilfe“.

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