Ausgabe 16, Dezember 2015

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Keine Krise, aber eine Herausforderung
Das Ressort für Zuwanderung und Integration erklärt: Wuppertal kann bis zu 2.000 Flüchtlinge im Jahr verkraften


Vor-Urteile stehen oft wie eine Mauer vor einer realistischen Beurteilung der Situation.

Alle Flüchtlinge wollen nach Europa, am liebsten nach Deutschland. – Flüchtlinge bekommen mehr Geld als Arbeitslose. – So schlecht kann es den Flüchtlingen ja nicht gehen, wenn die alle so ein teures Smartphone haben. – Flüchtlinge nehmen uns Deutschen die Arbeitsplätze weg. – Die Flüchtlinge wollen wegen des hohen Lebensstandards hier sowieso nicht mehr in ihre Heimat zurück.

Wenn es um Flüchtlinge in Deutschland geht, wird so manche Behauptung geäußert. Doch was ist an diesen und an anderen Behauptungen dran?

Europa ist ein reicher Kontinent. Und mitten drin liegt Deutschland, das in der ganzen Welt Synonym für Wohlstand, Meinungsfreiheit und Zuverlässigkeit ist. Das wird sich vermutlich auch nach dem VW-Abgasskandal und der DFB-Affäre um die WM-Vergabe 2006 nicht ändern. Oft wird behauptet, dass viele Flüchtlinge deshalb nach Europa kämen – und so den hiesigen Wohlstand gefährdeten. Doch wollen tatsächlich alle nach Europa? Die Zahlen sprechen eine andere Sprache: Das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) schätzt die Zahl der Flüchtlinge auf mehr als 60 Millionen, die höchste Zahl, die es je verzeichnet hat. Tendenz steigend. Jeden Tag machen sich mehr als 40.000 Menschen auf die Suche nach Frieden, Freiheit und einem Leben – warum auch nicht? – in Wohlstand. Allerdings flüchten die meisten von ihnen innerhalb ihres Heimatlandes, oder in ein Nachbarland. Das sei so, sagt Hans-Jürgen Lemmer, der Leiter des Ressorts Zuwanderung und Integration in Wuppertal, weil die meisten Flüchtlinge kein Geld hätten, um bis nach Europa zu fliehen. Aktuell wird von den vielen Syrern gesprochen, die nach Deutschland kommen. Vergessen oder unterschlagen werden dann meist die rund acht Millionen Binnenflüchtlinge, die in anderen Teilen Syriens Zuflucht gesucht haben. Zusätzlich sind mehrere Millionen Syrer in die Nachbarstaaten Türkei, Libanon, Irak und Jordanien geflüchtet. Im Vergleich dazu nimmt sich die Zahl der nach Europa strömenden Menschen eher gering aus. Dennoch ist es für Europa und für Deutschland, das bestätigt Hans-Jürgen Lemmer, die historisch größte Flüchtlingsbewegung. Trotzdem spricht er ungern von einer Krise, wie dies in der Berichterstattung über die „Flüchtlingskrise“ suggeriert wird: „Ich nehme eher das Wort ‚Herausforderung’ in den Mund. Wenn man schon von einer Krise reden möchte, dann würde ich es, und das ist jetzt eine persönliche Einschätzung, eher als Krise Europas bezeichnen. Und zwar als eine Wertekrise. Wenn man überlegt, dass nach Europa in diesem Jahr bis zu 1,7 Millionen Flüchtlinge kommen werden, und die EU 508 Millionen Einwohner hat, und schaut sich den Libanon an, ein Nachbarland von Syrien mit etwa 4 Millionen Einwohnern und Minimum 1,2 bis 1,5 Millionen Flüchtlingen, dann haben wir keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Solidarität, der Nächstenliebe oder der Barmherzigkeit.“

„Flüchtlinge kriegen mehr Geld“

Trotzdem, das Boot ist voll! Das behaupten die sogenannten patriotischen Europäer, die sozial Schwache mit Behauptungen wie „Flüchtlinge kriegen mehr Geld als Arbeitslose“ auf ihre Seite ziehen möchten. Für Hans-Jürgen Lemmer ist das ausgemachter Unsinn: „Das ist natürlich Quatsch, weil auch jeder Arbeitslose, der Hartz IV bezieht, knapp 400 Euro als Regelsatz hat. Er bekommt natürlich auch die Krankenkosten vom Jobcenter bezahlt und den Wohnraum. Dasselbe kriegt letztendlich auch der Flüchtling. Nur dass der Regelsatz niedriger ist, und zwar gute 10 Prozent. Ein Flüchtling bekommt definitiv weniger.“ Dies gilt zumindest so lange, wie das Asylverfahren läuft. Mit einer Anerkennung wird der Regelsatz dann auch angeglichen.

Allerdings wollten Flüchtlinge arbeiten und den Lebensunterhalt für sich und ihre Familie selbst bestreiten, sagt Hans-Jürgen Lemmer, und nimmt zu der Behauptung Stellung, „Flüchtlinge nehmen uns die Arbeitsplätze weg“. Doch nur die Menschen, die auch eine Bleiberechtsperspektive haben, dürften überhaupt nach drei Monaten arbeiten. „Auf der anderen Seite sind zum Beispiel die Menschen vom Balkan, die keine Bleiberechtsperspektive haben. Diese dürfen überhaupt nicht arbeiten, weder während des oder nach dem Asylverfahren.“ Bei den Flüchtlingen, die dann bleiben dürfen, nimmt der Ressortleiter eine hohe Motivation wahr, arbeiten zu wollen. „Wir machen seit sechs Jahren mit der Diakonie, mit der GESA und der SkF ein sehr erfolgreiches Arbeitsmarkprojekt für Flüchtlinge. Wir haben es in den Jahren geschafft, über 600 Flüchtlinge auf den ersten Arbeitsmarkt zu vermitteln, und zwar nicht zu Dumpinglöhnen, sondern zu den Mindestlöhnen, unabhängig von den öffentlichen Leistungen. Wir machen die gute Erfahrung, dass jenseits aller Fachkräftediskussionen, Flüchtlinge nicht immer die beste Qualifikation mitbringen, aber eine sehr hohe Motivation, schnell unabhängig von öffentlichen Leistungen zu werden und nicht zum Sozialamt zu gehen, sondern sich ihren Lohn selbst verdienen möchten“, sagt Hans-Jürgen Lemmer.

Smartphones als Hilfsmittel

Trotzdem werden Flüchtlinge oft missgünstig beäugt, bestätigt er, und führt das sogenannte „Smartphone-Phänomen“ an. Das besagt, dass es den Flüchtlingen so schlecht nicht gehen kann, wenn so viele von ihnen mit einem Smartphone in der Hand gesehen werden. „Erstens kommen die Menschen nicht unbedingt aus einem sehr armen Land. Wir müssen auch ehrlicherweise sagen, dass die Menschen, die nach Europa kommen, in ihrem Heimatland die etwas besser gestellten Menschen waren, mit besserer Ausbildung und regelmäßigen Einkommen“, relativiert der Ressortleiter. Und weiter: „Smartphone ist eine heiße Diskussion. Das erlebe ich immer wieder. Aber das Smartphone ist das wesentliche Instrument, um überhaupt bis zur Grenze nach Deutschland durchzukommen. Mit ihm werden die Fluchtwege kommuniziert, die Telefone haben ein GPS-System, mit dem ich mich selber orten und den nächsten Weg zum Punkt X finden kann. Es ist also ein wesentliches Hilfsmittel der Flucht. Deshalb haben die meisten Flüchtlinge auch ein Smartphone.“

Eine weitere landläufige Behauptung ist, dass Flüchtlinge nicht wieder in ihre Heimat zurückkehren wollten. Das kann der Leiter des Ressort für Zuwanderung und Integration bestenfalls relativieren, und nutzt dabei die Erfahrungswerte, die er mit Flüchtlingen während des Jugoslawienkriegs gemacht hat: „Je länger die Abwesenheit vom Heimatland ist, desto weniger Menschen kehren zurück. Das muss man sich ehrlicherweise eingestehen. Die Menschen, die hier nur kurze Zeit leben, die werden auch sicherlich als erstes zurückgehen. Die werden sich ihre Existenz, die sie in ihrer Heimat hatten, sicherlich wieder aufbauen wollen. Aber gerade wenn Familien mit Kindern bis zu sieben Jahren hier leben, hier aufwachsen, hier die Gesellschaft erleben – dann entscheiden sich die Familien oft, hier zu bleiben. Es ist ein Sowohl als Auch. Ein Teil der Flüchtlinge wird in die Heimat zurückkehren wollen, aber ein Teil wird sicherlich auch hier bleiben wollen“, sagt Hans-Jürgen Lemmer und sieht dabei auch die Chance, den demographischen Wandel hierzulande ein wenig abzufedern.

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