Ausgabe 15, September 2015

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Aghet – ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Armenischer Kinderschuh, den Armin T. Wegner am Wegrand der Deportationszüge gefunden hat. Armin T. Wegner Gesellschaft e.V., Wuppertal © Ulrich Klan, Wuppertal

Text Daniela Ullrich

Es ist eines der dunkelsten Kapitel des Ersten Weltkrieges: Der Genozid an den Armeniern, dem bis zu anderthalb Millionen Menschen im Osmanisch-Türkischen Reich zum Opfer fielen. Bis heute erkennt die türkische Regierung diesen Völkermord nicht als solchen an. Der in Elberfeld geborene Dichter Armin T. Wegner war zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Sanitätsoffizier Augenzeuge der Vertreibung der Armenier in die Wüste.

„Herr Präsident! Verschließen Sie Ihre Ohren nicht“, beginnt Armin T. Wegner seinen auf den 19. Januar 1919 datierten offenen Brief an den damaligen Präsidenten der USA, Woodrow Wilson. In seiner „Totenklage für Armenien“ bittet der 1886 in Elberfeld geborene Dichter den Politiker um Hilfe für das armenische Volk. „Dieses Schreiben ist ein Vermächtnis“, führt er fort. Im Namen der Menschlichkeit geht es Wegner in seinem Brief vordergründig darum, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu bitten, sich für ein unabhängiges Armenien stark zu machen. Die Kriegsparteien befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch am Beginn der Verhandlungen der Verträge auf der Pariser Friedenskonferenz.

Gleichzeitig ist der offene Brief Armin T. Wegners einer der wichtigsten Zeitzeugenberichte über die Auswirkungen der Vertreibung der Armenier im Ersten Weltkrieg. Fotos, die Wegner heimlich machte, während er als freiwilliger Sanitäter die Flüchtlingslager in der mesopotamischen Wüste besuchte, gehören zu den raren Bilddokumenten dieses Massenmordes. Ein Verbrechen, das Papst Franziskus Mitte April dieses Jahres in einer Messe im Petersdom als den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts bezeichnete. „Das Böse zu verbergen oder abzustreiten, ist genauso wie eine Wunde bluten zu lassen, ohne sie zu bandagieren“, wurde der Papst in den Medien zitiert.

Aghet

Aghet. Katastrophe. So nennen die Armenier jene grauenvollen Ereignisse, die im Frühjahr 1915 begannen. Ende April waren 235 prominente Armenier in Istanbul verhaftet und verschleppt worden. Ihr Schicksal ist ungeklärt, bis heute. Am 27. Mai 1915 wurde das „Gesetz über Bevölkerungsumsiedelung“ erlassen. Es erlaubte die Deportation von Nichtmuslimen aus den frontnahen Gebieten im Osten. Das Osmanische Reich kämpfte im Ersten Weltkrieg an der Seite des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns und Bulgariens gegen die Staaten der Entente. Die russische Armee war im Januar 1915 in Ostanatolien einmarschiert.

In der Hoffnung auf einen unabhängigen Staat hatten sich einige armenische Freiwilligen-Bataillone auf die russische Seite geschlagen, was in der historischen Forschung als der Vorwand für die systematische Vertreibung und den Völkermord an den Armeniern gilt. Einen Völkermord, den die Welt vergessen hat, den die Regierungen vieler Länder auch hundert Jahre später nicht als solchen anerkennen. Armin T. Wegner sieht den Genozid mit eigenen Augen. Zwei Jahre lang, so schreibt er in seinem Brief an Woodrow Wilson, seien Bilder von Not und Entsetzen an ihm vorbeigezogen. Damit übertreibt Wegner nicht.

Er schildert die Vertreibung der Armenier in die Wüste in drastischen Worten, und belässt es nicht bei dem Brief an den amerikanischen Präsidenten, um sich für das armenische Volk einzusetzen. Tagebuchaufzeichnungen aus seiner Zeit in Anatolien gibt der Mitbegründer des Bundes der Kriegsgegner unter dem Titel „Der Weg ohne Heimkehr“ 1919 heraus. Seine Fotografien zeigt Wegner von 1919 bis 1924 bei Lichtbildervorträgen in Berlin, Breslau und Wien. Einige dieser Aufnahmen präsentiert die von der Armin T. Wegner-Gesellschaft entwickelte Ausstellung „Aghet – der vergessene Völkermord“, die im Frühjahr dieses Jahres in Wuppertal zu sehen war. Wegners Texte „Rufe in die Welt“ sind im Wallstein Verlag erschienen. Zeit seines Leben versuchte sich Wegner an einem großen Armenien-Roman. Doch er gelang ihm nicht. Wegner verstummte.

Selber Opfer

Der Schriftsteller Franz Werfel war ihm 1932 mit „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ zuvorgekommen. Im April 1933 schrieb Wegner einen Brief an Adolf Hitler, in dem er gegen die Judenverfolgung protestierte. Im Mai gingen bei den Bücherverbrennungen auch seine Werke in den Flammen auf. Im August wurde er von der Gestapo in Oranienburg verhaftet und anschließend im Columbiahaus in Tempelhof gefoltert. Armin T. Wegner lebte damals in Berlin und war mit der jüdischen Schriftstellerin Lola Landau verheiratet. Von diesen Strapazen habe er sich nie erholt, sagt Judith Schönwiesner, Vorstand der Wuppertaler Armin T. Wegner-Gesellschaft. „Sein Sohn berichtet, er sei noch Jahre später nachts schreiend aus Alpträumen aufgewacht.“ Schönwiesner hat die Ausstellung „Aghet – der vergessene Völkermord“ kuratiert, die im Oktober in der Offenen Kirche Bielefeld zu sehen ist. „ Er war nicht länger Beobachtender, sondern selbst Opfer.

Der Armin-T.-Wegner-Platz befindet sich in Wuppertal am Wall. Geboren wurde Wegner 1898 in der Von-der-Tann-Straße im heutigen Briller Viertel in Elberfeld. Foto: Daniela Ullrich

Seine Erfahrungen versucht Wegner dennoch literarisch zu verarbeiten. Doch sein Roman „Die Peitsche“ bleibt ein Fragment. Er geht nach seiner Freilassung Ende 1933 ins Exil. Seine Werke kommen 1938 auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Wegners Protest gegen die Judenverfolgung verhallt, seine „Totenklage für Armenien“ gerät in Vergessenheit. Wegners Versuch, die Stimme der Menschlichkeit zu sein, scheitert. Bei einem Treffen mit den Oberkommandierenden auf dem Obersalzberg am 22. August 1939 fragt Adolf Hitler am Vorabend des Zweiten Weltkrieges in Hinblick auf den Überfall Polens und die Vernichtung der „polnischen Rasse“ rhetorisch: „Wer spricht denn heute noch von den Armeniern?“

Völkermord

Noch bis zum April dieses Jahres gehörte die Bundesrepublik zu den Ländern, die den Völkermord zwar nicht leugnete, den Begriff aber nicht offiziell verwendete. Nach Papst Franziskus benannte nun auch Bundespräsident Gauck die Vernichtung der Armenier als: „Völkermord“. Dies geschah im Rahmen eines ökumenischen Gottesdienstes im Berliner Dom. Wenige Tage bevor der Bundestag über einen Antrag beraten sollte, in dem die Fraktion Bündnis 90/die Grünen die Bundesregierung aufforderte, anzuerkennen, dass es sich bei den Massakern und Vertreibungen an den Armeniern ab 1915 um Völkermord handelt.

Information

1948 wird das Verbrechen am armenischen Volk bei den Vereinten Nationen thematisiert. Im Rahmen der juristischen Aufarbeitung des Holocausts, wird der Begriff „Genozid“ als Straftatbestand im Völkerrecht eingeführt. Der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin hatte die Charakteristika des Begriffes anhand des Völkermordes an den Armeniern entwickelt. Wie Mihran Dabag, Professor für Diaspora- und Genozid-Forschung an der Ruhr-Universität Bochum, in einem Beitrag im Magazin „Konkret“ im Juli dieses Jahres berichtet, habe Lemkim die Vernichtung der Armenier am 19. Februar 1949 in einem Interview mit dem amerikanischen Fernsehsender CBS anlässlich der Unterzeichnung der entsprechenden UN-Konvention als „Genocide“ typisiert.

Die seriöse historische Forschung, so schreibt Dabag in seinem Beitrag weiter, sei sich einig, „dass die jungtürkischen Vernichtungsmaßnahmen gegen die armenische Bevölkerung des Osmanischen Reichs zweifellos als Genozid zu charakterisieren sind.“ Raphael Lemkin, der Schöpfer der 1948 von der UN verabschiedeten Anti-Genozid-Konvention, bezeichnete den Völkermord an den Armeniern als den ersten systematisch ausgeführten Völkermord des 20. Jahrhunderts. Er gilt als Blaupause für alle weiteren Völkermorde, die das 20. Jahrhundert erschüttert haben. Der Theologe Johannes Lepsius hat schon 1896 ein armenisches Hilfswerk gegründet und die erste Dokumentation über den Völkermord geschrieben.

Armin Theophil Wegner (geb. 16. Oktober 1886 in Elberfeld, gest. 1978 in Rom) erhielt unter anderem das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland (1956) und den Eduard-von-der-Heydt-Preis seiner Heimatstadt Wuppertal (1962). 1968 wurde Wegner in die Reihe der Gerechten unter den Völkern aufgenommen. 2002 wurde die Armin-T.-Wegner-Gesellschaft mit Sitz in Wuppertal gegründet, 2003 ihre US-Schwestergesellschaft in Los Angeles.

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