Liebe Leserinnen und Leser,
ein Kindergarten ist ein Abbild des Lebens. Wer immer begreifen möchte, wie Gesellschaften funktionieren, braucht nur einen Tag im Kindergarten zu verbringen. Die gruppendynamischen Gesetze sind hier unverstellt und in Reinform zu beobachten. Nach vorsichtigem Abtasten formen sich schnell typgerechte Rollenzuweisungen aus. Da ist das stille Kind, das aus der Distanz - manchmal mit dem Neid der Sitzengebliebenen - beobachtet, wie die anderen herumtollen. Dann gibt es das laute Kind, das nach Aufmerksamkeit lechzt. Dann gibt es das Konstrukteurskind, das die höchsten Türme baut, und das altkluge Kind, das immer eine Antwort hat und redet wie die Erwachsenen. Es gibt aber auch das Forscherkind, das das Terrain, das erst vor drei Jahren von der letzten Forschungsexpedition erschlossen wurde, kurz vor dem Kindergartenzaun hinter der Hecke neu entdeckt. Und das wehleidige Kind gibt es auch, das selbst nach kleinen Remplern ein Pflaster braucht. Es gibt auch das Chefkind, das der Bande vorsteht und bestimmt, was getan wird. Vor allem aber gibt es das liebe Kind, das die Leitung der Gruppe so mag. Darauf sind die anderen neidisch. Denn alle wollen geliebt werden. Alle wollen das liebe Kind sein. Für die Aufmerksamkeit der Erzieherin oder des Erziehers, für dieses eine öffentliche Lob, da geben die Kinder alles: Das hast du gut gemacht!
Zu den Gesetzmäßigkeiten eines Kindergartens gehört, dass selbst das Chefkind eigentlich nichts zu sagen hat. Die Gruppenleiterin bzw. der Gruppenleiter hat das Sagen. Und was er bzw. sie sagt, ist Gesetz. Sonst wird geredet. Geredet und besprochen, dass das so nicht geht, weil die anderen dann traurig sind. Es wird geredet, bis die Worte die Ohren verstopfen und der kleine, gerade erwachte Verstand unter dem Torf sozialpädagogischer Konfliktbewältigung erstickt. Vielleicht hören Kinder gar nicht auf das, was man ihnen sagt; vielleicht kapitulieren sie einfach vor der Macht der Worte, damit sie endlich wieder Kind sein und spielen gehen dürfen. Wenn der Preis heißt: Sei lieb! - dann muss es wohl sein. Wenigstens jetzt. Irgendwann, wenn die Kinder groß sind, ja dann werden sie es allen zeigen.
Manch einer wartet sein Leben lang darauf, es allen zu zeigen. Die Sehnsucht, geliebt zu werden, bleibt übermächtig. Die toxische Macht der Lobsucht sediert die Mündigkeit. Man kann es immer wieder in der Welt der Erwachsenen beobachten: In den Betrieben und Verwaltungen, in Castingshows und Universitäten, ja auch in der Kirche. Nicht nur für den Aufstieg auf der Karriereleiter verhalten sich Erwachsene wie kleine Kinder. Man tut alles für das Lob: Das hast Du gut gemacht!
Es wundert also nicht, dass auch katholische Erwachsene, die doch eigentlich durch Taufe und Firmung zu einem mündigen christlichen Leben in der Kraft des Heiligen Geistes berufen, besser: beauftragt sind, diese in frühkindlichen Tagen erworbenen Verhaltensweisen ausleben. Bisweilen folgen die Interaktionen dabei in auffälliger Weise der oben dargestellten Typologie des Kindergartens: Egal, welche Rolle jemand im kirchlichen Gefüge einnimmt - die Sehnsucht nach dem Lob der Vorsteher (und der Begriff muss nicht gegendert werden!) ist übermächtig. Selbst die, die in kindlicher Naivität die Revolution fordern, gieren nach dem Lob des Papstes: Bitte, Heiliger Vater, sag, dass wir Revolution spielen dürfen!
So ähnlich hörte es sich in einem Interview anlässlich des Regensburger Katholikentages an, das der Journalist Wolfgang Meyer mit dem Vorsitzenden der Initiative "Wir sind Kirche" Christian Weisner führte (veröffentlicht in der WDR 5-Sendung "Diesseits von Eden" vom 1.6.2014). Eugen Drewermann zitierend fragt Wolfgang Meyer den Chef der vermeintlichen Kirchenrebellen:
Warum wartet ihr auf die Bischöfe?
und erhält doch nur ausweichende Antworten - ein Offenbarungseid für eine Gruppierung die das "Wir" der Kirche groß schreibt.
Wie weit das wenig erwachsene, eher von kindlichem Trotz geprägte Verhalten mancher gehen kann, wurde unlängst in Tirol offenbar. Laien feierten dort priesterlos Eucharistie, machten ihr Spiel öffentlich und wunderten sich, dass die Exkommunikation auf dem Fuß folgte. Der Bischof von Innsbruck nahm die Laien ernst und behandelte sie wie Erwachsene, eben nicht wie Kinder, die im Sandkasten Messe spielen. Manch einer wähnt angesichts der Exkommunikation gar das Ende des franziskanischen Frühlings. Ungeachtet der Tatsache, dass dem Frühling ein Sommer und kein Winter folgt, setzen sich sogar namhafte und veritable Theologen mit der Causa des Tiroler Ehepaares Heizer auseinander.
Tatsächlich führt die Diskussion ein Dilemma vor Augen. Getaufte und gefirmte Laien sind eben keine Kinder, sondern Mündige mit einem eigenen Auftrag. Der Auftrag ist durch Taufe und Firmung bereits erteilt. Er muss nicht mehr bestätigt werden. Teil dieses Auftrages ist es, die frohe Botschaft in Wort und Tat in der je eigenen und persönlich angemessenen Weise zu verkünden. Der Papst wird nicht müde, dieses Selbstverständlichkeit, die eigentlich keines weiteren Wortes bedürfte, zu betonen. Es ist doch schon längst gesagt worden: Sei besiegelt mit der Gabe des Heiligen Geistes!
Heißt das aber, dass jeder tun und lassen kann, was er möchte? Rechtfertigen Taufe und Firmung eine Selbstermächtigung?
Die Kirche war in ihrer Geschichte immer vorsichtig im Umgang mit Berufungen. Es ist eigentlich sogar anachronistisch, wenn nicht theologisch pervers, um Berufungen zu beten. Als wenn Gott sich bitten lassen würde ... Er beruft. Ob aber jeder, der sich berufen fühlt, tatsächlich zu dem berufen ist, wozu er berufen zu sein glaubt - das ist tatsächlich eine wichtige Frage. Man mag sich wünschen berufen zu sein. Man kann es sich sogar einbilden. Innerhalb des Leibes Christi geht es eben nicht darum, dass jeder tun und lassen kann, was er möchte. Deshalb mahnt Paulus in zweiten Lesung, die am Pfingstsonntag des Lesejahres A verkündet wird:
Jedem aber wird die Offenbarung des Geistes geschenkt, damit sie anderen nützt. (...) Denn wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: so ist es auch mit Christus. (1. Korinther 12,7.12)
Damit der Leib Christi lebt, bedarf es der Organisation des Organismus. Wo Zellen beginnen, ein Eigenleben zu führen, entstehen Geschwüre, die das Zusammenspiel der Glieder stören. Nicht umsonst geht der Staat gegen die Entwicklung von rechtlichen Subsystemen vor, die sich der Kontrolle der Öffentlichkeit entziehen. Recht kann nur sprechen, wer "im Namen des Volkes" ermächtig und bevollmächtigt ist. Der "Nutzen für die anderen" ist das Kriterium, nicht die eitle Suche der Selbstberufung. Deshalb braucht auch die Kirche Regeln, wie jede Gesellschaft in der Welt. Die Selbstermächtigung ähnelt deshalb einem Akt der Selbstjustiz. Und selbst wenn es eine innerkirchliche Gemeinschaft gibt, die eine Ermächtigung durch einen Akt der Wahl suggerieren würde, bedarf es doch einer Ratifizierung dieser Entscheidung. So wurde es in der frühen Geschichte der Kirche gelebt und gepflegt.
Die Sache mit der Berufung ist also höchst indifferent, so dass es wichtig ist, mutmaßliche Berufungen zu prüfen. Dabei wird deutlich, dass einseitige Ermächtigungen in sich problematisch sind. Ermächtigungen "von oben", die durch die Basis nicht ratifiziert werden, sind letztlich nicht tragfähig. Der Fall des ehemaligen Bischofs von Limburg, Franz-Peter Tebartz-van Elst ist hierfür ein beredtes Beispiel. Selbstermächtigungen "von unten", die nicht durch amtliche Autoritäten ratifiziert werden, fehlt die offizielle Legitimation, die verhindert, das jeder tut und lässt, was er will.
Es besteht kein Zweifel, dass die Kirche dringenden Nachholbedarf hat, was die Ratifizierung Bevollmächtigter durch die Basis hat. Allein darf man nicht darauf warten, dass diejenigen, für die das gerade bequem ist, ihr Verhalten ändern. Erwachsene schauen nicht nach oben, sondern in die Augen eines Gegenübers. Anstatt also wie Kinder brav darauf zu hoffen, endlich geliebt zu werden, sollten Christen erwachsen und mündig, ja souverän die Amtsausübung nicht nur beobachten, sondern konstruktiv kritisch hinterfragen. Gerade darin wirkt der Geist in dem einzigen Leib Christi. Es ist je, wie Paulus betont "ein" Geist.
Man darf also nicht darauf warten, dass der Geist nur in Rom weht. Es genügt nicht, resigniert anzuzweifeln, ob Bischofsbeauftragungen immer geistgewirkt sind. Der Fall Limburg aber zeigt, dass der Heilige Geist offenkundig Mittel und Wege findet, seinen Willen durch zu setzen, nämlich dann, wenn Christen erkennen, dass der Geist selbst auch in ihnen atmet und wirkt.
Auf dem Regensburger Katholikentag wurde wieder viel geredet. Viele der schönen und versöhnenden Worte habe aber eher eine seditative Wirkung. Dabei kennt schon die Heilige Schrift selbst ein Heilmittel, gegen die allgemeine Betäubung. Der mündige Glaube braucht Reflexion und Theologie. Und tatsächlich lässt sich im Schwall der Worte des Katholikentages diese Forderung vernehmen. Norbert Bauer macht in seinem Beitrag "Jürgen Klopp der Gemeindepastoral?" darauf aufmerksam, dass
"die Rede von und über Gott (...) manchmal angewiesen [ist] auf die distanzierte Reflexion, auf dem Mut zum Zweifel, auf das Bewusstsein der Begrenzung."
Und er fügt hinzu:
"Darin sollten gerade die Frauen und Männer geübt sein, die in ihrem Theologiestudium viel über die Konstruktion (und Dekonstruktion) von Gottesbildern erfahren haben, und die vor allem durch Exegese und Dogmengeschichte gelernt haben, wie religiöse Erfahrungen immer wieder neu reflektiert werden müssen."
So Recht er mit seiner Forderung hat, so sehr irritiert der Konjunktiv in der Hinzufügung. Das Problem ist tatsächlich ein doppeltes. Tatsächlich ist die Pastoral heute eher von Befindlichkeiten als von theologischer Reflexion und Verkündigung geprägt. Zu fragen ist aber, warum die, die die Theologie als Handwerk und reflexives Werkzeug erlernt haben, davon nicht schon längst Gebrauch machen. Erste-Hilfe-Kurse reichen eben nicht, wenn man Arzt werden will.
Echte Theologie ist deshalb kritisch und reflexiv. Sie schafft ein solides Fundament, das auch den Theologen dazu führt, sich selbstkritisch zu hinterfragen. Selbstermächtigungen sind nicht seine Sache, wohl aber der kritische Diskurs, der auch die zur theologischen Rechtfertigung zwingt, die glauben, das "qua Amt" nicht mehr nötig zu haben. Zu fragen ist, warum sie die Menschen nicht längst schon zu theologischer Reflexion ermächtigen. Der Konjunktiv im Satz von Norbert Bauer ist berechtigt, aber er ist ein Skandal.
Pfingsten ist das Fest der Ermächtigung. Das Evangelium vom Pfingstsonntag im Lesejahr A schildert die Geistgabe an die Jünger in Form eines lebenspendenden Schöpfungsaktes. Analog zu der Lebendigmachung des Adam durch das Einblasen des göttlichen Atems heißt es:
Er hauchte sie an und sprach zu ihnen: Empfangt den Heiligen Geist! (Johannes 20,22)
Christen werden nicht berufen. Sie sind zu neuem Leben erschaffen. Worauf also wartet ihr, ihr Trägerinnen und Träger des Heiligen Geistes? Dass ein Bischof sagt: Ihr dürft leben? Lebt und erwachst, denn der Auftrag ist längst von höherer Stelle erteilt!
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche,
Ihr Dr. Werner Kleine, PR
Katholische Citykirche Wuppertal