Liebe Leserinnen und Leser,
in diesen Tagen bekommen viele Hauptamtliche, die im pastoralen Dienst stehen, Post von einer interdisziplinären Forschungsgruppe. Diese Forschungsgruppe führt eine unabhängige und anonyme Fragenbogenstudie mit dem Titel "Wie es mir als Seelsorger/in heute geht ..." durch. Der Fragebogen erhebt Angaben zur Spiritualität und Gesundheit, zur Zufriedenheit und zur privaten Lebenssituation, zum "Stress" (die Anführungszeichen befinden sich - warum auch immer - tatsächlich auf der Frontseite des Fragebogens), zum Engagement im Dienst, zur Wertschätzung der eigenen Tätigkeit und vielem anderen mehr. Ziel ist laut Auskunft der Befrager "die Bereitstellung von aktuellem Grundlagenwissen zur Förderung (...) der Gesundheit und (...) Zufriedenheit im Dienst." Motivierend wird hinzugefügt:
Es geht um Sie und Ihr Wohlergehen! (aus den Hinweisen zum Ausfüllen des Fragebogens)
Das ist eine interessante Motivation für Seelsorgerinnen und Seelsorger. Nicht dass der Umgang mit eigenen Ressourcen gelernt werden muss. Nicht dass es notwendig wäre, die eigenen Grenzen und Möglichkeiten zu kennen. Nicht dass es für alle, die das Wort Gottes in Wort und Tat verkünden sollen, wichtig ist, dies in der Authentizität des eigenen Lebens zu bezeugen. Nicht dass es wünschenswert wäre, wenn das auch noch Spaß macht. Die Selbstfixierung, die hinter der motivierenden Ansage steht, findet sich allerdings schon seit vielen Jahren in den Äußerungen pastoraler Dienste, seien es geweihte oder ungeweihte, die eine zunehmende Meisterschaft der Abgrenzung entwickelt haben und Könner im Nein-Sagen geworden sind. Nein, es geht hier nicht um das Lob der Selbstausbeutung. Der Auftrag, den hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger haben, besteht allerdings nicht in der eigenen Seelenpflege, sondern in der Sorge um die Seelen anderer. Nicht das Ich sollte im Vordergrund stehen, sondern das Du.
Das ist tatsächlich angesichts der gegenwärtigen Umbruchsituationen von Bedeutung. Die Kirchengeschichte kennt viele solcher Umbruchsituationen. Bei näherem Hinsehen kann man sogar die Frage stellen, ob es überhaupt einmal eine ruhige Phase in der Kirchengeschichte gegeben hat. Das Axiom "ecclesia semper reformanda" (die Kirche ist ständig zu erneuern) lässt demgegenüber eher darauf schließen, dass Veränderung und Umbruch geradezu Wesenseigenschaften der Kirche sind. Ihr Auftrag besteht in der ständigen innovativen Inkulturation der frohen Botschaft in die jeweiligen Zeiten und Kulturen hinein. Bleibt der Inhalt der ihre anvertrauten Botschaft auch gleich, die Form ist doch in ständigem Wandel. Es gilt daher nicht die Alternative Bewahrung oder Entwicklung, sondern das Ineinander von Bewahrung und Entwicklung. Tradition ist kein Zustand, sondern ein Prozess!
Die gegenwärtige Umbruchsituation ist also nichts Besonderes. Besonders ist höchstens die Herausforderung für diejenigen, die ihre hauptamtlichen Strategien verändern müssen. Das Pfarrhaus und die Pfarrkirche waren bisher der Mittelpunkt des kleinen pastoralen Dorfes, in dem sich Liturgie und Katechese, bisweilen sogar Werke der Nächstenliebe ereigneten. Die Strukturreformen der letzten Jahre haben den Traum der vertrauten Pfarrfamilie zerplatzen lassen. Großpfarreien und Seelsorgebereiche haben geographische Ausdehnungen erreicht, die bisherige pastorale Strategien eigentlich unmöglich machen. Eigentlich! - denn viele pastoral Verantwortliche arbeiten nach bekannten Mustern weiter. Kirche scheint nicht da zu sein, wo zwei oder drei im Namen Jesu versammelt sind, sondern wo der Pfarrer oder eine Hauptamtlicher wohnt. Und so sollen sich das Volk Gottes als wahrhaft pilgerndes erweisen, wenn es hinter dem Priester herfährt, um zur nächsten Heiligen Messe gehen zu können.
Dass bei einer solchen Verfahrensweise die zwischenmenschlichen Beziehungen auf der Strecke bleiben, ist nur allzu selbstverständlich. Ecclesia - das war in Griechenland einmal die Volksversammlung in der polis, also der Stadt in der man wohnte. Das Volk stand im Mittelpunkt der Versammlung. Das Neue Testament übernimmt diesen Begriff für die Bezeichnung der Zusammenkünfte der an Christus Glaubenden. Die Versammlung selbst wurde zum lebendigen Symbol des Glaubens, zur sichtbaren Gestalt des Leibes Christi.
Erst in der späteren Entwicklung der Kirche trat die Bedeutung eines kirchlichen Amtes stärker in den Vordergrund. Diese Entwicklung war durch das Aufkommen von Irrlehren und der Bedrohung der kirchlichen Einheit notwendig geworden. Die Ausprägung institutioneller Strukturen beginnt bereits in neutestamentlicher Zeit. Ein Zeugnis ist etwa der zweite Brief an Timotheus, aus dem auch die zweite Lesung vom zweiten Fastensonntag im Lesejahr A stammt. Der Autor des Briefes gibt darin dem adressierten Timotheus, der nach einem Hinweis in der Historia ecclesiastica des Eusebius als Episkopus, also als Vorsteher bzw. Bischof einer Gemeinde wirkte, den Auftrag, sich unerschrocken für die wahre Lehre einzusetzen. Bereits in dem Briefeingang deutet der Autor an, dass dieser Einsatz eine Zumutung ist:
Leide mit mir für das Evangelium. Gott gibt dazu die Kraft. (2 Timotheus 1,8b)
Wer das Wort Gottes im Mund führt, muss leidensfähig sein. Vor der persönlichen Abgrenzung steht die Zumutung. Vor dem "Nein" die Inanspruchnahme Gottes zu Wort und Tat.
Später führt die Entwicklung des kirchlichen Amtes zu einem episkopalen Zentrismus, der seinen Ausdruck in einem viel zitierten Satz des Ignatius von Antiochien findet. Im Brief an die Smyrnäer schreibt er:
Alle sollt ihr dem Bischof gehorchen wie Jesus Christus dem Vater, und auch dem Presbyterium wie den Aposteln; die Diakonen aber ehret wie Gottes Anordnung. Keiner tue ohne den Bischof etwas, das die Kirche angeht. Nur jene Eucharistie gelte als die gesetzmäßige, die unter dem Bischof vollzogen wird oder durch den von ihm Beauftragten. Wo immer der Bischof sich zeigt, da sei auch das Volk, so wie da, wo Jesus Christus ist, auch die katholische Kirche ist. Ohne den Bischof darf man nicht taufen noch das Liebesmal feiern; aber was immer er für gut findet, das ist auch Gott wohlgefällig, auf dass alles, was geschieht, sicher sei und gesetzmäßig. (Ignatius von Antiochien, Brief an die Smyrnäer, 8)
Es ist der Satz in der Textmitte, der bis heute wirkt:
Wo immer der Bischof sich zeigt, da sei auch das Volk, so wie da, wo Jesus Christus ist, auch die katholische Kirche ist.
Das Volk hat zum Bischof zu gehen. Er ist der Fixpunkt der Gemeinde. Und so wird es heute in vielen Großpfarreien und Seelsorgeeinheiten gehalten, die - man muss kein Prophet sein - angesichts zurückgehender Priesterzahlen wohl weiter wachsen werden: Das Volk muss wandern, muss wandern zum Pfarrer, wandern, um zu Messe zu gehen. Völkerwanderungen müssten es sein. Aus dem Westen, aus dem Osten, aus dem Norden und aus dem Süden sollen sie streben. Die Massen sollen kommen, zu dem einen, der, wenn er fahren würde, eine Fahrkostenabrechnung einreichen könnte. Dort, wo die Hütte des Hauptamtlichen steht, dort ist die Kirche.
Es ist offenkundig, dass das so nicht funktionieren kann. Die Völker wandern nicht mehr. Nimmt man dem Volk den Ort seiner Versammlung, wird es ortlos. Deshalb sind größer werdende Pfarrgebilde und Seelsorgeeinheiten und die damit verbundenen Pastoralpläne auch Utopien im wahrsten Sinn des Wortes (οὐ τόπος/u topos - griechisch: kein Ort). Vielleicht liegt hierin der Grund, warum Jesus im Evangelium vom zweiten Fastensonntag des Lesejahres A nach seiner Verklärung seine Begleiter, Petrus, Jakobus und Johannes auffordert:
Steht auf, habt keine Angst! (Matthäus 17,7)
Eben noch wollten sie Hütten bauen, für ihn, Mose und Elija. Erstaunlich, dass ihnen die Erscheinung von Mose und Elija nicht erstaunt. Lapidar antwortet Petrus:
Herr, es ist gut, dass wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija. (Matthäus 17,4)
Mit der Hütte wird das Außergewöhnliche gezähmt, so wie die Tradition den Aufbruch zähmt. Und ehe die Kirche und die von ihr Beauftragten sich bewegen und ihre Hütte verlassen, mahnt man das Volk an, es würde sich doch auch sonst bewegen, um in das nächste Einkaufszentrum oder zur Freizeitaktivität zu fahren - als wenn die Kirche eine Freizeitveranstaltung wäre. Es ist erstaunlich, dass gerade die Abgrenzungsmeister hier etwas fordern, was sie selbst nicht zu geben bereit sind - die Erfüllung einer Zumutung, die seit den Zeiten Abrams allen gilt, die sich auf den Bund Gottes einlassen:
Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. (Genesis 12,2b.3)
Die erste Lesung vom zweiten Fastensonntag im Lesejahr A, der dieser Text entstammt, weiß zu berichten, dass Abram, der später Abraham heißen wird, nicht lange zögert:
Da zog Abram weg, wie der Herr ihm gesagt hatte. (Genesis 12,4a)
Abram zog weg, er baute keine Hütte. Der Urvater aller Glaubenden ging auf Wanderschaft; er wartete nicht darauf, dass die Völker zu ihm kamen. Wer in der gegenwärtigen Umbruchsituation auf die Menschen wartet, wird das wohl lange tun. Nur wer aufbricht und sich den Auftrag Gottes zumutet, wird zum Segen werden - einem Segen, der allen anvertraut ist, die als Kinder Abrahams an seiner Verheißung Anteil haben. Aufbruch, das ist kein Bekenntnis, das man mit Lippen formt, sondern mit den Füßen!
Ich wünsche Ihnen eine gesegnete Woche,
Ihr Dr. Werner Kleine, PR
Katholische Citykirche Wuppertal